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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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sind von Napoleon gänzlich abgewiesen. Die englische Regierung hat also
Grund genug, sich verletzt zu fühlen, und dies Gefühl könnte, unterstützt von
den Klagen des Handels über die Störung der Schifffahrt, England doch
allmälig mehr auf unsere Seite drängen, als Frankreich lieb sein kann.




Voltaire von Strauß.

Voltaire. Sechs Vorträge von David Friedrich Strauß. Leipzig. S. Hirzel 1870.

Gerne vergnügen wir uns noch heute an den Witzen, die einst Weimar
und Jena gegen die untergeordneten Helden der Aufklärung versandten. Doch
wenig gemein hat damit die Stimmung, in welcher wir heute auf das ganze
Jahrhundert zurückblicken. Die Tage sind vorbei, da man zuerst an Fried¬
rich Nicolai dachte, wenn von Aufklärung die Rede war. Seitdem wir nicht
mehr unter der unmittelbaren Wirkung der großen Revolution stehen, die
uns von der Zeit unserer Urgroßväter trennt, haben wir gelernt, gerechter
von ihr zu denken. Je weiter es zurücktritt, um so größer steigt vor uns
das Zeitalter auf, das Leibniz beginnt und Kant abschließt. Wir stehen auf
seinen Schultern, seine Kämpfe sind noch unsere Kämpfe, und unserer Gene¬
ration, welche der verwunderte Zeuge eines ökumenischen Concils geworden
ist, (der rückläufigen Bewegungen in der anderen Kirche nicht zu gedenken),
stünde am wenigsten an, mit Geringschätzung auf ein Zeitalter herabzusehen,
das den Kampf gegen das Vorurtheil zuerst systematisch und in geschlosse¬
nen Massen begonnen, das Banner der Ausklärung und Toleranz froh¬
lockend aufgepflanzt und in dem Ideal einer reinen Menschlichkeit geschwelgt
hat. Denn das ist es, was heute noch die Physiognomie jener Geistesart
so anziehend macht: die kecke Energie, mit welcher sie die Hindernisse aus
dem Weg räumt, die jugendliche Frische, mit der sie nach den Zielen sich
streckt, und die auch da noch anmuthet, wo es neben das Ziel oder darüber
hinaus ging. Wie Eine große Familie erscheinen die Culturvölker, verbunden
zu gegenseitiger Handreichung. Nicht von tausend Interessen, wie die unsrige,
sondern von Einem Interesse scheint jene ganze Zeit erfüllt. Uebermüthig
und verwegen, es ist wahr, spottet sie der weggeworfenen Ketten, aber so ist
die Art der Jugend. Auch begegnen uns Züge wenig erfreulicher Früh¬
reife, aber der Eindruck tüchtiger Gesundheit herrscht vor, und man darf
sagen: was heute wahrhaft gesund ist, knüpft in irgend einer Weise wieder
an die Traditionen von damals an. Denn nur da schütteln wir den Kopf,
wo die Aufklärung sich allzufrüh bescheiden, ihre Resultate feststellen und in
der eigenen Weisheit sich selbst bespiegeln wollte. Nicht auszuruhen war ihr


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sind von Napoleon gänzlich abgewiesen. Die englische Regierung hat also
Grund genug, sich verletzt zu fühlen, und dies Gefühl könnte, unterstützt von
den Klagen des Handels über die Störung der Schifffahrt, England doch
allmälig mehr auf unsere Seite drängen, als Frankreich lieb sein kann.




Voltaire von Strauß.

Voltaire. Sechs Vorträge von David Friedrich Strauß. Leipzig. S. Hirzel 1870.

Gerne vergnügen wir uns noch heute an den Witzen, die einst Weimar
und Jena gegen die untergeordneten Helden der Aufklärung versandten. Doch
wenig gemein hat damit die Stimmung, in welcher wir heute auf das ganze
Jahrhundert zurückblicken. Die Tage sind vorbei, da man zuerst an Fried¬
rich Nicolai dachte, wenn von Aufklärung die Rede war. Seitdem wir nicht
mehr unter der unmittelbaren Wirkung der großen Revolution stehen, die
uns von der Zeit unserer Urgroßväter trennt, haben wir gelernt, gerechter
von ihr zu denken. Je weiter es zurücktritt, um so größer steigt vor uns
das Zeitalter auf, das Leibniz beginnt und Kant abschließt. Wir stehen auf
seinen Schultern, seine Kämpfe sind noch unsere Kämpfe, und unserer Gene¬
ration, welche der verwunderte Zeuge eines ökumenischen Concils geworden
ist, (der rückläufigen Bewegungen in der anderen Kirche nicht zu gedenken),
stünde am wenigsten an, mit Geringschätzung auf ein Zeitalter herabzusehen,
das den Kampf gegen das Vorurtheil zuerst systematisch und in geschlosse¬
nen Massen begonnen, das Banner der Ausklärung und Toleranz froh¬
lockend aufgepflanzt und in dem Ideal einer reinen Menschlichkeit geschwelgt
hat. Denn das ist es, was heute noch die Physiognomie jener Geistesart
so anziehend macht: die kecke Energie, mit welcher sie die Hindernisse aus
dem Weg räumt, die jugendliche Frische, mit der sie nach den Zielen sich
streckt, und die auch da noch anmuthet, wo es neben das Ziel oder darüber
hinaus ging. Wie Eine große Familie erscheinen die Culturvölker, verbunden
zu gegenseitiger Handreichung. Nicht von tausend Interessen, wie die unsrige,
sondern von Einem Interesse scheint jene ganze Zeit erfüllt. Uebermüthig
und verwegen, es ist wahr, spottet sie der weggeworfenen Ketten, aber so ist
die Art der Jugend. Auch begegnen uns Züge wenig erfreulicher Früh¬
reife, aber der Eindruck tüchtiger Gesundheit herrscht vor, und man darf
sagen: was heute wahrhaft gesund ist, knüpft in irgend einer Weise wieder
an die Traditionen von damals an. Denn nur da schütteln wir den Kopf,
wo die Aufklärung sich allzufrüh bescheiden, ihre Resultate feststellen und in
der eigenen Weisheit sich selbst bespiegeln wollte. Nicht auszuruhen war ihr


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/155>, abgerufen am 06.05.2024.