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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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Sprache langsam ihre Spracheigenthümlichkeit. Fremde Einflüsse machen sich
je länger, desto mehr überall geltend, und die Klagen über unholländischen
Stil unserer Schriftsteller nehmen immer mehr zu. Selbst unsere gebildeten
Klassen können selten einen fehlerfreien holländischen Brief schreiben. Auf
diese Weise wird die Sprache wohl langsam als Cultursprache aussterben,
und es bleibt nichts als ein niederdeutscher Dialect übrig. Ohne eigene
Sprache kann aber kein Volk bestehen, oder es müßte andere, sehr tüchtige
Elemente für seine Selbständigkeit besitzen. --

Wie die mit Bäumen bepflanzten Canäle unserer Städte oberflächlich
das Bild eines ruhigen, gemüthlichen Lebens darstellen, so ist unser ganzes
Volksleben. Aber aus den stagnirenden Gewässern unserer Grachten steigen
ungesunde Dünste auf -- unter der äußeren Hülle unserer Ruhe birgt sich
unsere Krankheit. --

(Schluß folgt).




Are Hardinen-Vredigten der Iran Joctor Iratenriecher.
ii.
Zweite Predigt.
Handelt von dem deutschen Reiche, der Politik und der Kochkunst.

Aha, dieses Mal sollst Du mir nicht entwischen. Du bist wach und ich
bin wach. Mit der Verstellung, als ob Du schon schliefest, ist es also dies¬
mal nichts.

Sage mir doch um Gotteswillen, Bratenriecher, was habt Ihr diesmal
im Reichstage gemacht? Zuerst habt Ihr gesagt, dieser Reichstag habe sich
selbst seine Wahlperioden um so und so viel Monate vorgeschützt, ohne seine
Wähler zu fragen. Das sei Unrecht; das gelte nichts. In Euern Augen
sei dieser Reichstag todt und begraben. Er könne überhaupt nichts mehr und
am Allerwenigsten eine neue Verfassung machen.

War es nicht so? So habt Ihr gesagt? Gut, das lasse ich mir ge-
fallen! Aber was habt Ihr gethan? Ihr habt dem todten Manne selbst
geholfen, Schulden machen, eine Verfassung machen, eine Adresse machen, ein
deutsches Reich machen und einen deutschen Kaiser machen; und wenn Euch
nicht das Loos, das manchmal klüger ist, als die Menschen, davor bewahrt
hätte, dann wäret Ihr auch mit nach Versailles gezogen, um die Krone mit


Sprache langsam ihre Spracheigenthümlichkeit. Fremde Einflüsse machen sich
je länger, desto mehr überall geltend, und die Klagen über unholländischen
Stil unserer Schriftsteller nehmen immer mehr zu. Selbst unsere gebildeten
Klassen können selten einen fehlerfreien holländischen Brief schreiben. Auf
diese Weise wird die Sprache wohl langsam als Cultursprache aussterben,
und es bleibt nichts als ein niederdeutscher Dialect übrig. Ohne eigene
Sprache kann aber kein Volk bestehen, oder es müßte andere, sehr tüchtige
Elemente für seine Selbständigkeit besitzen. —

Wie die mit Bäumen bepflanzten Canäle unserer Städte oberflächlich
das Bild eines ruhigen, gemüthlichen Lebens darstellen, so ist unser ganzes
Volksleben. Aber aus den stagnirenden Gewässern unserer Grachten steigen
ungesunde Dünste auf — unter der äußeren Hülle unserer Ruhe birgt sich
unsere Krankheit. —

(Schluß folgt).




Are Hardinen-Vredigten der Iran Joctor Iratenriecher.
ii.
Zweite Predigt.
Handelt von dem deutschen Reiche, der Politik und der Kochkunst.

Aha, dieses Mal sollst Du mir nicht entwischen. Du bist wach und ich
bin wach. Mit der Verstellung, als ob Du schon schliefest, ist es also dies¬
mal nichts.

Sage mir doch um Gotteswillen, Bratenriecher, was habt Ihr diesmal
im Reichstage gemacht? Zuerst habt Ihr gesagt, dieser Reichstag habe sich
selbst seine Wahlperioden um so und so viel Monate vorgeschützt, ohne seine
Wähler zu fragen. Das sei Unrecht; das gelte nichts. In Euern Augen
sei dieser Reichstag todt und begraben. Er könne überhaupt nichts mehr und
am Allerwenigsten eine neue Verfassung machen.

War es nicht so? So habt Ihr gesagt? Gut, das lasse ich mir ge-
fallen! Aber was habt Ihr gethan? Ihr habt dem todten Manne selbst
geholfen, Schulden machen, eine Verfassung machen, eine Adresse machen, ein
deutsches Reich machen und einen deutschen Kaiser machen; und wenn Euch
nicht das Loos, das manchmal klüger ist, als die Menschen, davor bewahrt
hätte, dann wäret Ihr auch mit nach Versailles gezogen, um die Krone mit


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[0074] Sprache langsam ihre Spracheigenthümlichkeit. Fremde Einflüsse machen sich je länger, desto mehr überall geltend, und die Klagen über unholländischen Stil unserer Schriftsteller nehmen immer mehr zu. Selbst unsere gebildeten Klassen können selten einen fehlerfreien holländischen Brief schreiben. Auf diese Weise wird die Sprache wohl langsam als Cultursprache aussterben, und es bleibt nichts als ein niederdeutscher Dialect übrig. Ohne eigene Sprache kann aber kein Volk bestehen, oder es müßte andere, sehr tüchtige Elemente für seine Selbständigkeit besitzen. — Wie die mit Bäumen bepflanzten Canäle unserer Städte oberflächlich das Bild eines ruhigen, gemüthlichen Lebens darstellen, so ist unser ganzes Volksleben. Aber aus den stagnirenden Gewässern unserer Grachten steigen ungesunde Dünste auf — unter der äußeren Hülle unserer Ruhe birgt sich unsere Krankheit. — (Schluß folgt). Are Hardinen-Vredigten der Iran Joctor Iratenriecher. ii. Zweite Predigt. Handelt von dem deutschen Reiche, der Politik und der Kochkunst. Aha, dieses Mal sollst Du mir nicht entwischen. Du bist wach und ich bin wach. Mit der Verstellung, als ob Du schon schliefest, ist es also dies¬ mal nichts. Sage mir doch um Gotteswillen, Bratenriecher, was habt Ihr diesmal im Reichstage gemacht? Zuerst habt Ihr gesagt, dieser Reichstag habe sich selbst seine Wahlperioden um so und so viel Monate vorgeschützt, ohne seine Wähler zu fragen. Das sei Unrecht; das gelte nichts. In Euern Augen sei dieser Reichstag todt und begraben. Er könne überhaupt nichts mehr und am Allerwenigsten eine neue Verfassung machen. War es nicht so? So habt Ihr gesagt? Gut, das lasse ich mir ge- fallen! Aber was habt Ihr gethan? Ihr habt dem todten Manne selbst geholfen, Schulden machen, eine Verfassung machen, eine Adresse machen, ein deutsches Reich machen und einen deutschen Kaiser machen; und wenn Euch nicht das Loos, das manchmal klüger ist, als die Menschen, davor bewahrt hätte, dann wäret Ihr auch mit nach Versailles gezogen, um die Krone mit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/74>, abgerufen am 05.05.2024.