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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band.

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Ariefe eines Deutschen an einen Schweizer.
Dritter Brief.

Mein Freund!

Nach der bisherigen Bundesverfassung der Schweiz, d. h. derjenigen von
1848, die ja seither nur unwesentlich im Entwürfe modificirt worden ist, sah
es mit der schweizerischen Freizügigkeit folgendermaßen aus: Die Juden
waren trotz ihres etwaigen Schweizerbürgerrechts von ihr ausgeschlossen. Der
schweizerische Christ aber hatte, wenn er sich "im ganzen Umfange der Eidge¬
nossenschaft in irgend einem Kanton" niederlassen wollte, zunächst folgende
"Ausweisschriften zu besitzen: einen Heimathschein, ein Zeugniß sittlicher Auf¬
führung, eine Bescheinigung, daß er in bürgerlichen Ehren und Rechten stehe."
Außerdem aber mußte er "auf Verlangen sich ausweisen können, daß er
durch Vermögen, Beruf oder Gewerbe sich und seine Familie zu ernähren im
Stande sei. Naturalisirte Schweizer mußten ferner noch die Bescheinigung
beibringen, daß sie wenigstens fünf Jahre lang im Besitze eines Kantonsbür¬
gerrechts sich befinden." Nachdem dieses von polizeilicher Willkühr und dem
Argwohn der Kommunen ziemlich scharfgeheizte Fegefeuer glücklich passirt war,
hatte der schweizerische Zugvogel indessen immer nur für eine bestimmte
Zeitdauer ein Unterkommen gefunden, welches ihm allerseits noch recht¬
zeitig verleidet werden konnte, ehe er sich etwa eine größere oder geringere
Unterstützungsberechtigung angewohnt hatte. Noch vor Ablauf dieser Zeit
konnte aber zudem der Niederlassung des ortsfremden Schweizerbürgers ein
jähes Ende bereitet werden entweder durch "gerichtliches Strafurtheil", d. h.
durch die in meinem letzten Briefe geschilderte Kantonsverweisung, die oft
wegen der geringsten Bagatellen ausgesprochen wird, oder auch durch einfache
"Verfügung der Polizeibehörden, wenn er die bürgerlichen Ehren und Rechte
verloren hat, oder sich eines unsittlichen Lebenswandels schuldig macht, oder
durch Verarmung zur Last fällt, oder schon oft wegen Uebertreibung polizei¬
licher Vorschriften bestraft worden ist." Die Niederlassung selbst gewährte die
Rechte der Kantonsbürger, mit Ausnahme des Stimmrechts in Gemeindean¬
gelegenheiten und des Mitantheils an Gemeinde- und Corporationsgütern.



*) Bergl. über diese'..NiedcrlassungSverhSltnisse" "re,. 41, 42, offizielle Sammlung v. I8K4.
Lausanne, A. Larpin S. 14, 1!>,
Grenzboten l. 1871. 87
Ariefe eines Deutschen an einen Schweizer.
Dritter Brief.

Mein Freund!

Nach der bisherigen Bundesverfassung der Schweiz, d. h. derjenigen von
1848, die ja seither nur unwesentlich im Entwürfe modificirt worden ist, sah
es mit der schweizerischen Freizügigkeit folgendermaßen aus: Die Juden
waren trotz ihres etwaigen Schweizerbürgerrechts von ihr ausgeschlossen. Der
schweizerische Christ aber hatte, wenn er sich „im ganzen Umfange der Eidge¬
nossenschaft in irgend einem Kanton" niederlassen wollte, zunächst folgende
„Ausweisschriften zu besitzen: einen Heimathschein, ein Zeugniß sittlicher Auf¬
führung, eine Bescheinigung, daß er in bürgerlichen Ehren und Rechten stehe."
Außerdem aber mußte er „auf Verlangen sich ausweisen können, daß er
durch Vermögen, Beruf oder Gewerbe sich und seine Familie zu ernähren im
Stande sei. Naturalisirte Schweizer mußten ferner noch die Bescheinigung
beibringen, daß sie wenigstens fünf Jahre lang im Besitze eines Kantonsbür¬
gerrechts sich befinden." Nachdem dieses von polizeilicher Willkühr und dem
Argwohn der Kommunen ziemlich scharfgeheizte Fegefeuer glücklich passirt war,
hatte der schweizerische Zugvogel indessen immer nur für eine bestimmte
Zeitdauer ein Unterkommen gefunden, welches ihm allerseits noch recht¬
zeitig verleidet werden konnte, ehe er sich etwa eine größere oder geringere
Unterstützungsberechtigung angewohnt hatte. Noch vor Ablauf dieser Zeit
konnte aber zudem der Niederlassung des ortsfremden Schweizerbürgers ein
jähes Ende bereitet werden entweder durch „gerichtliches Strafurtheil", d. h.
durch die in meinem letzten Briefe geschilderte Kantonsverweisung, die oft
wegen der geringsten Bagatellen ausgesprochen wird, oder auch durch einfache
„Verfügung der Polizeibehörden, wenn er die bürgerlichen Ehren und Rechte
verloren hat, oder sich eines unsittlichen Lebenswandels schuldig macht, oder
durch Verarmung zur Last fällt, oder schon oft wegen Uebertreibung polizei¬
licher Vorschriften bestraft worden ist." Die Niederlassung selbst gewährte die
Rechte der Kantonsbürger, mit Ausnahme des Stimmrechts in Gemeindean¬
gelegenheiten und des Mitantheils an Gemeinde- und Corporationsgütern.



*) Bergl. über diese'..NiedcrlassungSverhSltnisse" »re,. 41, 42, offizielle Sammlung v. I8K4.
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[0169] Ariefe eines Deutschen an einen Schweizer. Dritter Brief. Mein Freund! Nach der bisherigen Bundesverfassung der Schweiz, d. h. derjenigen von 1848, die ja seither nur unwesentlich im Entwürfe modificirt worden ist, sah es mit der schweizerischen Freizügigkeit folgendermaßen aus: Die Juden waren trotz ihres etwaigen Schweizerbürgerrechts von ihr ausgeschlossen. Der schweizerische Christ aber hatte, wenn er sich „im ganzen Umfange der Eidge¬ nossenschaft in irgend einem Kanton" niederlassen wollte, zunächst folgende „Ausweisschriften zu besitzen: einen Heimathschein, ein Zeugniß sittlicher Auf¬ führung, eine Bescheinigung, daß er in bürgerlichen Ehren und Rechten stehe." Außerdem aber mußte er „auf Verlangen sich ausweisen können, daß er durch Vermögen, Beruf oder Gewerbe sich und seine Familie zu ernähren im Stande sei. Naturalisirte Schweizer mußten ferner noch die Bescheinigung beibringen, daß sie wenigstens fünf Jahre lang im Besitze eines Kantonsbür¬ gerrechts sich befinden." Nachdem dieses von polizeilicher Willkühr und dem Argwohn der Kommunen ziemlich scharfgeheizte Fegefeuer glücklich passirt war, hatte der schweizerische Zugvogel indessen immer nur für eine bestimmte Zeitdauer ein Unterkommen gefunden, welches ihm allerseits noch recht¬ zeitig verleidet werden konnte, ehe er sich etwa eine größere oder geringere Unterstützungsberechtigung angewohnt hatte. Noch vor Ablauf dieser Zeit konnte aber zudem der Niederlassung des ortsfremden Schweizerbürgers ein jähes Ende bereitet werden entweder durch „gerichtliches Strafurtheil", d. h. durch die in meinem letzten Briefe geschilderte Kantonsverweisung, die oft wegen der geringsten Bagatellen ausgesprochen wird, oder auch durch einfache „Verfügung der Polizeibehörden, wenn er die bürgerlichen Ehren und Rechte verloren hat, oder sich eines unsittlichen Lebenswandels schuldig macht, oder durch Verarmung zur Last fällt, oder schon oft wegen Uebertreibung polizei¬ licher Vorschriften bestraft worden ist." Die Niederlassung selbst gewährte die Rechte der Kantonsbürger, mit Ausnahme des Stimmrechts in Gemeindean¬ gelegenheiten und des Mitantheils an Gemeinde- und Corporationsgütern. *) Bergl. über diese'..NiedcrlassungSverhSltnisse" »re,. 41, 42, offizielle Sammlung v. I8K4. Lausanne, A. Larpin S. 14, 1!>, Grenzboten l. 1871. 87

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125781/169>, abgerufen am 30.04.2024.