Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Eine seit Decennien von den Deutschen unterdrückte und mißhandelte Natio¬
nalität rafft sich zu einer Sturmpetition an den Kaiser auf um Lostrennung
von Tirol. Bildung eines selbständigen Kronlandes, Gewährung eines eigenen
Landtages. Wie wird das loyale Volk des alten Fürstenthums jubeln, wenn
der ehemals so gefürchtete und gescheute Polizeichef ihm nun mit einem Mal
als der Messias der neuen Freiheit erscheint und seinen Herzenswunsch beim
Kaiser vertritt! Das Heil, das den unbeugsamen Männern von Wälschtirol
in Aussicht steht, kann auch anderen von den deutschen Barbaren vorgewal-
tigten Nationalitäten gewährt werden; nicht nur die Slaven in Steiermark
und Kärnten dürfen auf festem Anschluß an ihre Brüder in Kram bestehen,
auch alle sonstigen nichtdeutschen Stämme gehen der Ausbildung ihrer Eigen¬
art und nationalen Selbständigkeit entgegen, nur den Deutschen in Böhmen,
Mähren und Polen dürften altes Herkommen und verbriefte Rechte ähnliche
Vortheile kaum gestatten. Und wenn dann der ganze Großstaat -- Ungarn
nicht ausgenommen -- in seinen ursprünglichen Elementen aufblühe, kann
ihm das Zwangshemd eines Februar- oder December-Reichsraths nimmer
passen; er hat sich überlebt, und es bleibt für die durch die nationale, feudale
und clericale Autonomie beglückten Völker kein anderes Band der Einheit
mehr, als etwa eine Delegation zur Bewilligung von Steuern und Rekruten
und die Personalunion im Sinne der pragmatischen Sanction. Die schöne
Gebirgslandschaft von Tirol scheint seit der Gewährung eines eigenen Land¬
wehrgesetzes ganz besonders dazu bestimmt, den übrigen für eine bescheidene
Sonderstellung noch weniger begeisterten Kronländern den Spiegel seines
Glückes vorzuhalten. Hat sich nur vorerst in diesem kleineren Theile der Mon¬
archie das Ideal des Grafen Hohenwart verwirklicht, so werden die anderen
bisher von Parteien und Nationalitäten zerrissenenen Provinzen mit Begierde
nach dem gleichen "inneren Frieden" langen; tragen ihnen alsdann doch die
Enkel Hofers, wie einst ihre Väter im Jahre 1809, das Banner der Freiheit
voran. Ob auch die Deutschen in Oestreich jubelnd dahinter herziehen, steht
freilich noch einigermaßen in Frage; als unzweifelhaft darf vielmehr gelten,
daß dies der kürzeste Weg ist -- zum Ende.




Die Mätmfrage im Keichstage.

Herr Schulze-Delitzsch konnte nicht unterlassen, die Erneuerung des An¬
trags auf Diäten für die Reichstagsmitglieder sogleich in der ersten Reichs-


Eine seit Decennien von den Deutschen unterdrückte und mißhandelte Natio¬
nalität rafft sich zu einer Sturmpetition an den Kaiser auf um Lostrennung
von Tirol. Bildung eines selbständigen Kronlandes, Gewährung eines eigenen
Landtages. Wie wird das loyale Volk des alten Fürstenthums jubeln, wenn
der ehemals so gefürchtete und gescheute Polizeichef ihm nun mit einem Mal
als der Messias der neuen Freiheit erscheint und seinen Herzenswunsch beim
Kaiser vertritt! Das Heil, das den unbeugsamen Männern von Wälschtirol
in Aussicht steht, kann auch anderen von den deutschen Barbaren vorgewal-
tigten Nationalitäten gewährt werden; nicht nur die Slaven in Steiermark
und Kärnten dürfen auf festem Anschluß an ihre Brüder in Kram bestehen,
auch alle sonstigen nichtdeutschen Stämme gehen der Ausbildung ihrer Eigen¬
art und nationalen Selbständigkeit entgegen, nur den Deutschen in Böhmen,
Mähren und Polen dürften altes Herkommen und verbriefte Rechte ähnliche
Vortheile kaum gestatten. Und wenn dann der ganze Großstaat — Ungarn
nicht ausgenommen — in seinen ursprünglichen Elementen aufblühe, kann
ihm das Zwangshemd eines Februar- oder December-Reichsraths nimmer
passen; er hat sich überlebt, und es bleibt für die durch die nationale, feudale
und clericale Autonomie beglückten Völker kein anderes Band der Einheit
mehr, als etwa eine Delegation zur Bewilligung von Steuern und Rekruten
und die Personalunion im Sinne der pragmatischen Sanction. Die schöne
Gebirgslandschaft von Tirol scheint seit der Gewährung eines eigenen Land¬
wehrgesetzes ganz besonders dazu bestimmt, den übrigen für eine bescheidene
Sonderstellung noch weniger begeisterten Kronländern den Spiegel seines
Glückes vorzuhalten. Hat sich nur vorerst in diesem kleineren Theile der Mon¬
archie das Ideal des Grafen Hohenwart verwirklicht, so werden die anderen
bisher von Parteien und Nationalitäten zerrissenenen Provinzen mit Begierde
nach dem gleichen „inneren Frieden" langen; tragen ihnen alsdann doch die
Enkel Hofers, wie einst ihre Väter im Jahre 1809, das Banner der Freiheit
voran. Ob auch die Deutschen in Oestreich jubelnd dahinter herziehen, steht
freilich noch einigermaßen in Frage; als unzweifelhaft darf vielmehr gelten,
daß dies der kürzeste Weg ist — zum Ende.




Die Mätmfrage im Keichstage.

Herr Schulze-Delitzsch konnte nicht unterlassen, die Erneuerung des An¬
trags auf Diäten für die Reichstagsmitglieder sogleich in der ersten Reichs-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0205" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/125987"/>
          <p xml:id="ID_653" prev="#ID_652"> Eine seit Decennien von den Deutschen unterdrückte und mißhandelte Natio¬<lb/>
nalität rafft sich zu einer Sturmpetition an den Kaiser auf um Lostrennung<lb/>
von Tirol. Bildung eines selbständigen Kronlandes, Gewährung eines eigenen<lb/>
Landtages. Wie wird das loyale Volk des alten Fürstenthums jubeln, wenn<lb/>
der ehemals so gefürchtete und gescheute Polizeichef ihm nun mit einem Mal<lb/>
als der Messias der neuen Freiheit erscheint und seinen Herzenswunsch beim<lb/>
Kaiser vertritt! Das Heil, das den unbeugsamen Männern von Wälschtirol<lb/>
in Aussicht steht, kann auch anderen von den deutschen Barbaren vorgewal-<lb/>
tigten Nationalitäten gewährt werden; nicht nur die Slaven in Steiermark<lb/>
und Kärnten dürfen auf festem Anschluß an ihre Brüder in Kram bestehen,<lb/>
auch alle sonstigen nichtdeutschen Stämme gehen der Ausbildung ihrer Eigen¬<lb/>
art und nationalen Selbständigkeit entgegen, nur den Deutschen in Böhmen,<lb/>
Mähren und Polen dürften altes Herkommen und verbriefte Rechte ähnliche<lb/>
Vortheile kaum gestatten. Und wenn dann der ganze Großstaat &#x2014; Ungarn<lb/>
nicht ausgenommen &#x2014; in seinen ursprünglichen Elementen aufblühe, kann<lb/>
ihm das Zwangshemd eines Februar- oder December-Reichsraths nimmer<lb/>
passen; er hat sich überlebt, und es bleibt für die durch die nationale, feudale<lb/>
und clericale Autonomie beglückten Völker kein anderes Band der Einheit<lb/>
mehr, als etwa eine Delegation zur Bewilligung von Steuern und Rekruten<lb/>
und die Personalunion im Sinne der pragmatischen Sanction. Die schöne<lb/>
Gebirgslandschaft von Tirol scheint seit der Gewährung eines eigenen Land¬<lb/>
wehrgesetzes ganz besonders dazu bestimmt, den übrigen für eine bescheidene<lb/>
Sonderstellung noch weniger begeisterten Kronländern den Spiegel seines<lb/>
Glückes vorzuhalten. Hat sich nur vorerst in diesem kleineren Theile der Mon¬<lb/>
archie das Ideal des Grafen Hohenwart verwirklicht, so werden die anderen<lb/>
bisher von Parteien und Nationalitäten zerrissenenen Provinzen mit Begierde<lb/>
nach dem gleichen &#x201E;inneren Frieden" langen; tragen ihnen alsdann doch die<lb/>
Enkel Hofers, wie einst ihre Väter im Jahre 1809, das Banner der Freiheit<lb/>
voran. Ob auch die Deutschen in Oestreich jubelnd dahinter herziehen, steht<lb/>
freilich noch einigermaßen in Frage; als unzweifelhaft darf vielmehr gelten,<lb/>
daß dies der kürzeste Weg ist &#x2014; zum Ende.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Die Mätmfrage im Keichstage.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_654" next="#ID_655"> Herr Schulze-Delitzsch konnte nicht unterlassen, die Erneuerung des An¬<lb/>
trags auf Diäten für die Reichstagsmitglieder sogleich in der ersten Reichs-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0205] Eine seit Decennien von den Deutschen unterdrückte und mißhandelte Natio¬ nalität rafft sich zu einer Sturmpetition an den Kaiser auf um Lostrennung von Tirol. Bildung eines selbständigen Kronlandes, Gewährung eines eigenen Landtages. Wie wird das loyale Volk des alten Fürstenthums jubeln, wenn der ehemals so gefürchtete und gescheute Polizeichef ihm nun mit einem Mal als der Messias der neuen Freiheit erscheint und seinen Herzenswunsch beim Kaiser vertritt! Das Heil, das den unbeugsamen Männern von Wälschtirol in Aussicht steht, kann auch anderen von den deutschen Barbaren vorgewal- tigten Nationalitäten gewährt werden; nicht nur die Slaven in Steiermark und Kärnten dürfen auf festem Anschluß an ihre Brüder in Kram bestehen, auch alle sonstigen nichtdeutschen Stämme gehen der Ausbildung ihrer Eigen¬ art und nationalen Selbständigkeit entgegen, nur den Deutschen in Böhmen, Mähren und Polen dürften altes Herkommen und verbriefte Rechte ähnliche Vortheile kaum gestatten. Und wenn dann der ganze Großstaat — Ungarn nicht ausgenommen — in seinen ursprünglichen Elementen aufblühe, kann ihm das Zwangshemd eines Februar- oder December-Reichsraths nimmer passen; er hat sich überlebt, und es bleibt für die durch die nationale, feudale und clericale Autonomie beglückten Völker kein anderes Band der Einheit mehr, als etwa eine Delegation zur Bewilligung von Steuern und Rekruten und die Personalunion im Sinne der pragmatischen Sanction. Die schöne Gebirgslandschaft von Tirol scheint seit der Gewährung eines eigenen Land¬ wehrgesetzes ganz besonders dazu bestimmt, den übrigen für eine bescheidene Sonderstellung noch weniger begeisterten Kronländern den Spiegel seines Glückes vorzuhalten. Hat sich nur vorerst in diesem kleineren Theile der Mon¬ archie das Ideal des Grafen Hohenwart verwirklicht, so werden die anderen bisher von Parteien und Nationalitäten zerrissenenen Provinzen mit Begierde nach dem gleichen „inneren Frieden" langen; tragen ihnen alsdann doch die Enkel Hofers, wie einst ihre Väter im Jahre 1809, das Banner der Freiheit voran. Ob auch die Deutschen in Oestreich jubelnd dahinter herziehen, steht freilich noch einigermaßen in Frage; als unzweifelhaft darf vielmehr gelten, daß dies der kürzeste Weg ist — zum Ende. Die Mätmfrage im Keichstage. Herr Schulze-Delitzsch konnte nicht unterlassen, die Erneuerung des An¬ trags auf Diäten für die Reichstagsmitglieder sogleich in der ersten Reichs-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125781/205
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125781/205>, abgerufen am 30.04.2024.