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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band.

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Strchburgs Jedeutung für den deutschen Humanismus.
Ein Vortrag von Prof. Dr. Eckstein.

Es sind hundert Jahre verflossen, seitdem I. W. Goethe aus der Krv-
nungsstadt am Main nach der Münsterstadt am Rheine zog, um nach dem
Willen seines Baders auf der Straßburger Universität einen regelmäßigen
Abschluß seiner academischen Studien durch Erlangung eines academischen
Grades zu machen. Dies Ziel wurde erreicht. Am 6. August 1771 war er
zum Licentiaten der Rechte promovirt; alle Welt nannte ihn Doctor, nur
das frankfurter Bürgerbuch war peinlich genau. Wichtiger indeß wurde der
Aufenthalt in Straßburg für die innere Entwickelung des deutschen Dichters.
Diese Blätter haben darüber schon zu Anfang des Jahrgangs berichtet.*)

Zwanzig Jahre später ist die Entdeutschung der Stadt allgemeiner geworden.
Die Revolution mit ihrer Gleichmacherei verbot den Gebrauch der deutschen Sprache,
unterdrückte 1793 deutsche Tracht und Sitte (ein gleicher Befehl von 1685
war an dem Widerstande der Frauen und der Schneider gescheitert), schnitt
den Handelsverkehr mit Deutschland ab und kettete das Elsaß mit Straßburg
an die Geschicke der großen Nation, während das deutsche Reich immer mehr
verfiel und in seiner politischen Zerrissenheit eine weitere Anziehungskraft nicht be¬
saß. So darf nicht auffallen, daß heute dort die Gesinnung französisch,
deutsch-feindlich ist. Nur der Sprachzwang ist wirkungslos geblieben und die
Schule hat es nicht dahin gebracht, daß die Bevölkerung ihre Muttersprache
mit der fremden vertauschte. Straßburg besitzt ein deutsches Bürger-
thum, das seit tausend Jahren an den Geschicken des deutschen Reiches An¬
theil genommen und in das geistige Leben der deutschen Nation wirksam einge¬
griffen hat.

Das Land der Elsasser d. h. der Fremdlinge, der Alamannischen, welche
seit dem fünften Jahrhundert in der schönen rheinischen Tiefebene sich ange¬
siedelt haben, knüpft an die Römerzeiten an. Die Stadt Straßburg ist aus
einer Militärstation der achten römischen Legion erwachsen; sie war ein starkes
Bollwerk am Ober-Rhein, wie ^.ugustli liauraeoi um, und der Knotenpunkt



D, R. Berge. Heft 1 u. 2 der Grenzboten 1871, "Goethe und das Elsas-/'
Grenzboten I. 187 t. 92
Strchburgs Jedeutung für den deutschen Humanismus.
Ein Vortrag von Prof. Dr. Eckstein.

Es sind hundert Jahre verflossen, seitdem I. W. Goethe aus der Krv-
nungsstadt am Main nach der Münsterstadt am Rheine zog, um nach dem
Willen seines Baders auf der Straßburger Universität einen regelmäßigen
Abschluß seiner academischen Studien durch Erlangung eines academischen
Grades zu machen. Dies Ziel wurde erreicht. Am 6. August 1771 war er
zum Licentiaten der Rechte promovirt; alle Welt nannte ihn Doctor, nur
das frankfurter Bürgerbuch war peinlich genau. Wichtiger indeß wurde der
Aufenthalt in Straßburg für die innere Entwickelung des deutschen Dichters.
Diese Blätter haben darüber schon zu Anfang des Jahrgangs berichtet.*)

Zwanzig Jahre später ist die Entdeutschung der Stadt allgemeiner geworden.
Die Revolution mit ihrer Gleichmacherei verbot den Gebrauch der deutschen Sprache,
unterdrückte 1793 deutsche Tracht und Sitte (ein gleicher Befehl von 1685
war an dem Widerstande der Frauen und der Schneider gescheitert), schnitt
den Handelsverkehr mit Deutschland ab und kettete das Elsaß mit Straßburg
an die Geschicke der großen Nation, während das deutsche Reich immer mehr
verfiel und in seiner politischen Zerrissenheit eine weitere Anziehungskraft nicht be¬
saß. So darf nicht auffallen, daß heute dort die Gesinnung französisch,
deutsch-feindlich ist. Nur der Sprachzwang ist wirkungslos geblieben und die
Schule hat es nicht dahin gebracht, daß die Bevölkerung ihre Muttersprache
mit der fremden vertauschte. Straßburg besitzt ein deutsches Bürger-
thum, das seit tausend Jahren an den Geschicken des deutschen Reiches An¬
theil genommen und in das geistige Leben der deutschen Nation wirksam einge¬
griffen hat.

Das Land der Elsasser d. h. der Fremdlinge, der Alamannischen, welche
seit dem fünften Jahrhundert in der schönen rheinischen Tiefebene sich ange¬
siedelt haben, knüpft an die Römerzeiten an. Die Stadt Straßburg ist aus
einer Militärstation der achten römischen Legion erwachsen; sie war ein starkes
Bollwerk am Ober-Rhein, wie ^.ugustli liauraeoi um, und der Knotenpunkt



D, R. Berge. Heft 1 u. 2 der Grenzboten 1871, „Goethe und das Elsas-/'
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[0209] Strchburgs Jedeutung für den deutschen Humanismus. Ein Vortrag von Prof. Dr. Eckstein. Es sind hundert Jahre verflossen, seitdem I. W. Goethe aus der Krv- nungsstadt am Main nach der Münsterstadt am Rheine zog, um nach dem Willen seines Baders auf der Straßburger Universität einen regelmäßigen Abschluß seiner academischen Studien durch Erlangung eines academischen Grades zu machen. Dies Ziel wurde erreicht. Am 6. August 1771 war er zum Licentiaten der Rechte promovirt; alle Welt nannte ihn Doctor, nur das frankfurter Bürgerbuch war peinlich genau. Wichtiger indeß wurde der Aufenthalt in Straßburg für die innere Entwickelung des deutschen Dichters. Diese Blätter haben darüber schon zu Anfang des Jahrgangs berichtet.*) Zwanzig Jahre später ist die Entdeutschung der Stadt allgemeiner geworden. Die Revolution mit ihrer Gleichmacherei verbot den Gebrauch der deutschen Sprache, unterdrückte 1793 deutsche Tracht und Sitte (ein gleicher Befehl von 1685 war an dem Widerstande der Frauen und der Schneider gescheitert), schnitt den Handelsverkehr mit Deutschland ab und kettete das Elsaß mit Straßburg an die Geschicke der großen Nation, während das deutsche Reich immer mehr verfiel und in seiner politischen Zerrissenheit eine weitere Anziehungskraft nicht be¬ saß. So darf nicht auffallen, daß heute dort die Gesinnung französisch, deutsch-feindlich ist. Nur der Sprachzwang ist wirkungslos geblieben und die Schule hat es nicht dahin gebracht, daß die Bevölkerung ihre Muttersprache mit der fremden vertauschte. Straßburg besitzt ein deutsches Bürger- thum, das seit tausend Jahren an den Geschicken des deutschen Reiches An¬ theil genommen und in das geistige Leben der deutschen Nation wirksam einge¬ griffen hat. Das Land der Elsasser d. h. der Fremdlinge, der Alamannischen, welche seit dem fünften Jahrhundert in der schönen rheinischen Tiefebene sich ange¬ siedelt haben, knüpft an die Römerzeiten an. Die Stadt Straßburg ist aus einer Militärstation der achten römischen Legion erwachsen; sie war ein starkes Bollwerk am Ober-Rhein, wie ^.ugustli liauraeoi um, und der Knotenpunkt D, R. Berge. Heft 1 u. 2 der Grenzboten 1871, „Goethe und das Elsas-/' Grenzboten I. 187 t. 92

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125781/209>, abgerufen am 30.04.2024.