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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band.

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Kuh den Hagen der Kommune.
Pariser Briefe eines naturalisirten Deutschen.")

Lieber M.

Um einige Briefe mit Sicherheit zu erpediren, schicke ich heute meinen
Markthelfer, der 60 Jahre alt ist, und deßhalb zur Stadt hinaus gelassen wird,
nach Saint-Denis, und benutze diese Gelegenheit, um Dir anzuzeigen, daß
ich mich vorläufig noch ganz wohl befinde. Die schauerliche Walpurgisnacht
dauert freilich recht lange, und man fängt an sich zu fragen: wann und wie
soll es enden? Die furchtbare Kanonade von gestern Abend, die die ganze
Nacht fortgedauert hat, und auch in diesem Augenblicke (früh 10) noch an¬
hält, und die Fenster zittern macht, ist wohl ohne entscheidendes Resultat
geblieben, und die Pariser fangen an zu "hoffen" (!), daß die Preußen sich
schließlich hineinmengen werden. Nationalgardendienst thue ich nicht mehr,
trotz aller Einberufungen, habe aber gestern eine energische Aufforderung zu¬
geschickt bekommen, mich am Hotel de Mlle (um eine Barrikade der Commune
zu bewachen!) einzusinken, widrigenfalls:c..... Ich bin natürlich nicht
gegangen und erwarte jetzt jeden Augenblick den Besuch eines Pelotons, um
mich zu entwaffnen, vielleicht gar zu arretiren. Einige Leute rathen mir, ich
solle zu flüchten suchen oder mich wenigstens verstecken, aber ich will meinem
Grundsatze treu bleiben, den Kopf nicht zu verlieren, und will den Ereig¬
Dein O. nissen ruhig entgegensehen.

Herzlich grüßend

8. Du hast jedenfalls gehört, daß seit 14 Tagen keine Briefe mehr
nach Paris kommen, wirst Dich also, wenn Du mir seitdem etwa schriebst,
nicht wundern,, daß ich Dir den Empfang nicht anzeige. Es liegen alle
Briefe in Versailles.


Lieber M.

In meinem letzten Briefe, den ich Dir vor etwa 8 Tagen schrieb, drückte
ich die Vermuthung aus, daß ein Brief oder Briefe von Dir in Versailles auf-



") Der Verfasser mußte sich naturalisiren lassen, um in Paris unter dem Kaiserreich das
D. N. Brevct als Buchhändler erwerben zu können.
Grenzboten I. 1871.
Kuh den Hagen der Kommune.
Pariser Briefe eines naturalisirten Deutschen.")

Lieber M.

Um einige Briefe mit Sicherheit zu erpediren, schicke ich heute meinen
Markthelfer, der 60 Jahre alt ist, und deßhalb zur Stadt hinaus gelassen wird,
nach Saint-Denis, und benutze diese Gelegenheit, um Dir anzuzeigen, daß
ich mich vorläufig noch ganz wohl befinde. Die schauerliche Walpurgisnacht
dauert freilich recht lange, und man fängt an sich zu fragen: wann und wie
soll es enden? Die furchtbare Kanonade von gestern Abend, die die ganze
Nacht fortgedauert hat, und auch in diesem Augenblicke (früh 10) noch an¬
hält, und die Fenster zittern macht, ist wohl ohne entscheidendes Resultat
geblieben, und die Pariser fangen an zu „hoffen" (!), daß die Preußen sich
schließlich hineinmengen werden. Nationalgardendienst thue ich nicht mehr,
trotz aller Einberufungen, habe aber gestern eine energische Aufforderung zu¬
geschickt bekommen, mich am Hotel de Mlle (um eine Barrikade der Commune
zu bewachen!) einzusinken, widrigenfalls:c..... Ich bin natürlich nicht
gegangen und erwarte jetzt jeden Augenblick den Besuch eines Pelotons, um
mich zu entwaffnen, vielleicht gar zu arretiren. Einige Leute rathen mir, ich
solle zu flüchten suchen oder mich wenigstens verstecken, aber ich will meinem
Grundsatze treu bleiben, den Kopf nicht zu verlieren, und will den Ereig¬
Dein O. nissen ruhig entgegensehen.

Herzlich grüßend

8. Du hast jedenfalls gehört, daß seit 14 Tagen keine Briefe mehr
nach Paris kommen, wirst Dich also, wenn Du mir seitdem etwa schriebst,
nicht wundern,, daß ich Dir den Empfang nicht anzeige. Es liegen alle
Briefe in Versailles.


Lieber M.

In meinem letzten Briefe, den ich Dir vor etwa 8 Tagen schrieb, drückte
ich die Vermuthung aus, daß ein Brief oder Briefe von Dir in Versailles auf-



") Der Verfasser mußte sich naturalisiren lassen, um in Paris unter dem Kaiserreich das
D. N. Brevct als Buchhändler erwerben zu können.
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[0409] Kuh den Hagen der Kommune. Pariser Briefe eines naturalisirten Deutschen.") Lieber M. Um einige Briefe mit Sicherheit zu erpediren, schicke ich heute meinen Markthelfer, der 60 Jahre alt ist, und deßhalb zur Stadt hinaus gelassen wird, nach Saint-Denis, und benutze diese Gelegenheit, um Dir anzuzeigen, daß ich mich vorläufig noch ganz wohl befinde. Die schauerliche Walpurgisnacht dauert freilich recht lange, und man fängt an sich zu fragen: wann und wie soll es enden? Die furchtbare Kanonade von gestern Abend, die die ganze Nacht fortgedauert hat, und auch in diesem Augenblicke (früh 10) noch an¬ hält, und die Fenster zittern macht, ist wohl ohne entscheidendes Resultat geblieben, und die Pariser fangen an zu „hoffen" (!), daß die Preußen sich schließlich hineinmengen werden. Nationalgardendienst thue ich nicht mehr, trotz aller Einberufungen, habe aber gestern eine energische Aufforderung zu¬ geschickt bekommen, mich am Hotel de Mlle (um eine Barrikade der Commune zu bewachen!) einzusinken, widrigenfalls:c..... Ich bin natürlich nicht gegangen und erwarte jetzt jeden Augenblick den Besuch eines Pelotons, um mich zu entwaffnen, vielleicht gar zu arretiren. Einige Leute rathen mir, ich solle zu flüchten suchen oder mich wenigstens verstecken, aber ich will meinem Grundsatze treu bleiben, den Kopf nicht zu verlieren, und will den Ereig¬ Dein O. nissen ruhig entgegensehen. Herzlich grüßend 8. Du hast jedenfalls gehört, daß seit 14 Tagen keine Briefe mehr nach Paris kommen, wirst Dich also, wenn Du mir seitdem etwa schriebst, nicht wundern,, daß ich Dir den Empfang nicht anzeige. Es liegen alle Briefe in Versailles. Lieber M. In meinem letzten Briefe, den ich Dir vor etwa 8 Tagen schrieb, drückte ich die Vermuthung aus, daß ein Brief oder Briefe von Dir in Versailles auf- ") Der Verfasser mußte sich naturalisiren lassen, um in Paris unter dem Kaiserreich das D. N. Brevct als Buchhändler erwerben zu können. Grenzboten I. 1871.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125781/409>, abgerufen am 30.04.2024.