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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band.

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in Einsamkeit die Zeit, die nicht mehr fern sein kann, zu erwarten, wo meine
alten Knochen zur Ruhe gelegt werden in dem Boden, den ich so sehr geliebt
und dessen Glück und Ehre ich so lange überlebt habe.




Der Luftballon im Völkerrecht.

Die Kreuzzeitung brachte in Ur, 101 von 1871 einen Artikel "Ein
Schneider in der Luft." Der Fall betraf einen Herrn Worth aus London,
der seines Zeichens Schneider sein soll, und mit dem Titel und ihrer Darstellung der
Sache wollte die Kreuzztg. vielleicht einen Witz machen. Aber für alle Betheiligten
war die Angelegenheit eine äußerst ernste. Worth befand sich vier Monate in Haft
und mußte zeitweise sein Leben für gefährdet ansehen, Die englische Diplo¬
matie setzte während der ganzen Zeit alle Hebel in Bewegung, um die Frei¬
lassung zu erwirken, und das Auswärtige Amt in London legte schließlich die
gepflogene Korrespondenz in einem besonderen Heft*) dem Parlament vor, um
zu rechtfertigen, daß es, dem Rathe der Kronjuristen gemäß, die Vertre¬
tung der von Worth erhobenen Ansprüche auf Entschädigung ablehnte.

Das Actenstück, eine der wohlthätigen Aeußerungen des öffentlichen Le¬
bens in England, denen die Praxis der continentalen Staaten sehr wenig
zur Seite zu setzen hat, verdient aus mehr als einem Grunde Beachtung.
Wird wohl unter gleichen Umständen dem "nichtdistinguirten" Angehörigen
eines anderen europäischen Staates, zumal wenn dieser Angehörige Schneider
ist, begegnen, daß die Diplomaten seines Landes seinetwegen 72, sage zwei
und siebenzig, Depeschen, Telegramme, und Briefe schreiben, von denen 16 der
Minister selbst gezeichnet hat? Oder daß ein Botschaftssecretair von Berlin
nach Cöln gesandt wird, einzig und allein, um die Interessen des Gefangenen
an Ort und Stelle zu vertreten? Die Fürsorge des Ministers geht bis zu
der zarten Rücksicht, daß er der kränklichen Mutter des Verhafteten Mitthei¬
lungen durch eine Mittelsperson machen läßt, damit sie nicht vor dem Siegel
des Auswärtigen Amtes erschrickt. -- Auf persönliche Beziehungen wirft der
Briefwechsel interessante Streiflichter. Odo Russel berichtet unter, dem 9. Fe¬
bruar 1871 aus Versailles: nachdem er fast drei Monate lang persönlich
thätig gewesen sei, ohne etwas auszurichten, sei er überzeugt, der einzige
(also ein wohl nicht ganz ungangbarer!) Weg, die Freilassung zu erreichen, sei,
daß die Königin von Großbritannien selbst sich an den Kaiser von Deutsch¬
land wende. Der Minister Lord Granville beauftragt den Botschafter in



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in Einsamkeit die Zeit, die nicht mehr fern sein kann, zu erwarten, wo meine
alten Knochen zur Ruhe gelegt werden in dem Boden, den ich so sehr geliebt
und dessen Glück und Ehre ich so lange überlebt habe.




Der Luftballon im Völkerrecht.

Die Kreuzzeitung brachte in Ur, 101 von 1871 einen Artikel „Ein
Schneider in der Luft." Der Fall betraf einen Herrn Worth aus London,
der seines Zeichens Schneider sein soll, und mit dem Titel und ihrer Darstellung der
Sache wollte die Kreuzztg. vielleicht einen Witz machen. Aber für alle Betheiligten
war die Angelegenheit eine äußerst ernste. Worth befand sich vier Monate in Haft
und mußte zeitweise sein Leben für gefährdet ansehen, Die englische Diplo¬
matie setzte während der ganzen Zeit alle Hebel in Bewegung, um die Frei¬
lassung zu erwirken, und das Auswärtige Amt in London legte schließlich die
gepflogene Korrespondenz in einem besonderen Heft*) dem Parlament vor, um
zu rechtfertigen, daß es, dem Rathe der Kronjuristen gemäß, die Vertre¬
tung der von Worth erhobenen Ansprüche auf Entschädigung ablehnte.

Das Actenstück, eine der wohlthätigen Aeußerungen des öffentlichen Le¬
bens in England, denen die Praxis der continentalen Staaten sehr wenig
zur Seite zu setzen hat, verdient aus mehr als einem Grunde Beachtung.
Wird wohl unter gleichen Umständen dem „nichtdistinguirten" Angehörigen
eines anderen europäischen Staates, zumal wenn dieser Angehörige Schneider
ist, begegnen, daß die Diplomaten seines Landes seinetwegen 72, sage zwei
und siebenzig, Depeschen, Telegramme, und Briefe schreiben, von denen 16 der
Minister selbst gezeichnet hat? Oder daß ein Botschaftssecretair von Berlin
nach Cöln gesandt wird, einzig und allein, um die Interessen des Gefangenen
an Ort und Stelle zu vertreten? Die Fürsorge des Ministers geht bis zu
der zarten Rücksicht, daß er der kränklichen Mutter des Verhafteten Mitthei¬
lungen durch eine Mittelsperson machen läßt, damit sie nicht vor dem Siegel
des Auswärtigen Amtes erschrickt. — Auf persönliche Beziehungen wirft der
Briefwechsel interessante Streiflichter. Odo Russel berichtet unter, dem 9. Fe¬
bruar 1871 aus Versailles: nachdem er fast drei Monate lang persönlich
thätig gewesen sei, ohne etwas auszurichten, sei er überzeugt, der einzige
(also ein wohl nicht ganz ungangbarer!) Weg, die Freilassung zu erreichen, sei,
daß die Königin von Großbritannien selbst sich an den Kaiser von Deutsch¬
land wende. Der Minister Lord Granville beauftragt den Botschafter in



*) Lorrospon6suos rvspsoting tuo imprisonmvnt «I ^ir. Wordli tuo j'r»s«i!in«.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125781/472>, abgerufen am 30.04.2024.