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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band.

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"Nothwendige Aesormen im Seekriegsrecht.

Bor unseren Augen vollziehen sich Thatsachen, welche mehr, als irgend
sonst Etwas, mehr, als wissenschaftliche Scrupel, oder oberflächliches Urtheil
den Zweifel nähren, ob man berechtigt sei, das sogenannte europäische Völ¬
kerrecht als ein wohlbefestigtes und entwickelungsfähiges Rechts-System zu
betrachten. "Personen, welche nicht zur feindlichen Heeresmacht gehören" --
so lehrt das moderne Kriegsrecht -- "werden, so lange sie selbst keine Feind¬
seligkeiten begehen, mit persönlicher Vergewaltigung verschont." "In der Er¬
bitterung des Krieges sind wohl ausnahmsweise in einzelnen Fällen die in
Feindesland befindlichen friedlichen Unterthanen des anderen Staates als
Kriegsgefangene behandelt worden. Aber solche Behandlung widerstreitet den
Grundsätzen des modernen Völkerrechtes." Als der gegenwärtige Krieg be¬
gann, hatte die französische Staatsgewalt nichts Eiligeres zu thun, als Hun¬
derttausende friedlicher Menschen von notorisch oder angeblich deutscher Ab¬
stammung von Haus und Hof zu vertreiben. "Persönliche Vergewaltigung"
oft der grausamsten Art! Als die französische offizielle Seeräuberei ihren
Anfang nahm, galt es der feindlichen Staatsgewalt als ganz selbstverständlich,
daß die Mannschaft der zu nehmenden deutschen Schiffe kriegsgefangen zu
erklären sei. Und wir wissen ja, was unsere armen Landsleute von der
Handelsmarine in französischer Gewalt zu leiden haben!

"Parlamentirende Militärpersonen, wenn sie mit den herkömmlichen
Zeichen sich nähern, müssen als unverletzbar gelten und auch zur Rückkehr
Zeit und Sicherheit erhalten." So lehrt wiederum das moderne Völkerrecht.
Und Niemand wird eine Controverse über diesen Satz für möglich halten.
Dennoch ist dieses angeblich geheiligte und unumstößlich feststehende Recht der
Parlamentärs von französischer Seite so vielfach und gröblich verletzt worden,
daß man, wie bekannt, auf deutscher Seite lange Zeit Bedenken trug, ob
man sich der Parlamentärs noch ferner auch da bedienen solle, wo das Völ¬
kerrecht andererseits solche Verwendung zur Pflicht macht; zumal jenen Fällen
von Völkerrechtsbruch niemals eine Entschuldigung gefolgt ist, dieselben nie-


Grenzboten I. l87l. 67
"Nothwendige Aesormen im Seekriegsrecht.

Bor unseren Augen vollziehen sich Thatsachen, welche mehr, als irgend
sonst Etwas, mehr, als wissenschaftliche Scrupel, oder oberflächliches Urtheil
den Zweifel nähren, ob man berechtigt sei, das sogenannte europäische Völ¬
kerrecht als ein wohlbefestigtes und entwickelungsfähiges Rechts-System zu
betrachten. „Personen, welche nicht zur feindlichen Heeresmacht gehören" —
so lehrt das moderne Kriegsrecht — „werden, so lange sie selbst keine Feind¬
seligkeiten begehen, mit persönlicher Vergewaltigung verschont." „In der Er¬
bitterung des Krieges sind wohl ausnahmsweise in einzelnen Fällen die in
Feindesland befindlichen friedlichen Unterthanen des anderen Staates als
Kriegsgefangene behandelt worden. Aber solche Behandlung widerstreitet den
Grundsätzen des modernen Völkerrechtes." Als der gegenwärtige Krieg be¬
gann, hatte die französische Staatsgewalt nichts Eiligeres zu thun, als Hun¬
derttausende friedlicher Menschen von notorisch oder angeblich deutscher Ab¬
stammung von Haus und Hof zu vertreiben. „Persönliche Vergewaltigung"
oft der grausamsten Art! Als die französische offizielle Seeräuberei ihren
Anfang nahm, galt es der feindlichen Staatsgewalt als ganz selbstverständlich,
daß die Mannschaft der zu nehmenden deutschen Schiffe kriegsgefangen zu
erklären sei. Und wir wissen ja, was unsere armen Landsleute von der
Handelsmarine in französischer Gewalt zu leiden haben!

„Parlamentirende Militärpersonen, wenn sie mit den herkömmlichen
Zeichen sich nähern, müssen als unverletzbar gelten und auch zur Rückkehr
Zeit und Sicherheit erhalten." So lehrt wiederum das moderne Völkerrecht.
Und Niemand wird eine Controverse über diesen Satz für möglich halten.
Dennoch ist dieses angeblich geheiligte und unumstößlich feststehende Recht der
Parlamentärs von französischer Seite so vielfach und gröblich verletzt worden,
daß man, wie bekannt, auf deutscher Seite lange Zeit Bedenken trug, ob
man sich der Parlamentärs noch ferner auch da bedienen solle, wo das Völ¬
kerrecht andererseits solche Verwendung zur Pflicht macht; zumal jenen Fällen
von Völkerrechtsbruch niemals eine Entschuldigung gefolgt ist, dieselben nie-


Grenzboten I. l87l. 67
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[0009] "Nothwendige Aesormen im Seekriegsrecht. Bor unseren Augen vollziehen sich Thatsachen, welche mehr, als irgend sonst Etwas, mehr, als wissenschaftliche Scrupel, oder oberflächliches Urtheil den Zweifel nähren, ob man berechtigt sei, das sogenannte europäische Völ¬ kerrecht als ein wohlbefestigtes und entwickelungsfähiges Rechts-System zu betrachten. „Personen, welche nicht zur feindlichen Heeresmacht gehören" — so lehrt das moderne Kriegsrecht — „werden, so lange sie selbst keine Feind¬ seligkeiten begehen, mit persönlicher Vergewaltigung verschont." „In der Er¬ bitterung des Krieges sind wohl ausnahmsweise in einzelnen Fällen die in Feindesland befindlichen friedlichen Unterthanen des anderen Staates als Kriegsgefangene behandelt worden. Aber solche Behandlung widerstreitet den Grundsätzen des modernen Völkerrechtes." Als der gegenwärtige Krieg be¬ gann, hatte die französische Staatsgewalt nichts Eiligeres zu thun, als Hun¬ derttausende friedlicher Menschen von notorisch oder angeblich deutscher Ab¬ stammung von Haus und Hof zu vertreiben. „Persönliche Vergewaltigung" oft der grausamsten Art! Als die französische offizielle Seeräuberei ihren Anfang nahm, galt es der feindlichen Staatsgewalt als ganz selbstverständlich, daß die Mannschaft der zu nehmenden deutschen Schiffe kriegsgefangen zu erklären sei. Und wir wissen ja, was unsere armen Landsleute von der Handelsmarine in französischer Gewalt zu leiden haben! „Parlamentirende Militärpersonen, wenn sie mit den herkömmlichen Zeichen sich nähern, müssen als unverletzbar gelten und auch zur Rückkehr Zeit und Sicherheit erhalten." So lehrt wiederum das moderne Völkerrecht. Und Niemand wird eine Controverse über diesen Satz für möglich halten. Dennoch ist dieses angeblich geheiligte und unumstößlich feststehende Recht der Parlamentärs von französischer Seite so vielfach und gröblich verletzt worden, daß man, wie bekannt, auf deutscher Seite lange Zeit Bedenken trug, ob man sich der Parlamentärs noch ferner auch da bedienen solle, wo das Völ¬ kerrecht andererseits solche Verwendung zur Pflicht macht; zumal jenen Fällen von Völkerrechtsbruch niemals eine Entschuldigung gefolgt ist, dieselben nie- Grenzboten I. l87l. 67

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125781/9>, abgerufen am 30.04.2024.