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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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dieses Ministerium der Herstellung des deutschen Reiches nicht absolut feind¬
lich zu sein schien? Haben dieselben Ultramontanen nicht gegen die Vertrags¬
treue Baierns beim Ausbruch des deutsch-französischen Krieges gestimmt und
später gegen den Eintritt Baierns in das deutsche Reich auf Grund der Ver-
sailler Abmachungen? Diese Dinge muß man sich immer wieder vergegen¬
wärtigen. Gesetzt aber, Herr von Ketteler wollte behaupten, die jetzigen
Mitglieder der Fraccion des Centrums, Herrn Windthorst eingeschlossen,
seien sämmtlich loyale Förderer des nunmehrigen deutschen Reichs, so bleiben
doch solche Erscheinungen sehr bedenklich, wie die kürzlich zu Königshütte zu
Tage gekommene, wo die Arbeiterunruhen allem Anschein nach nicht durch
sociale, sondern durch klerikale Agitation hervorgerufen worden sind.




Berliner Ariese.

Die Zeit wird still und stiller. Nicht bloß die
Minister fliegen allmählig aus, um wenn irgend möglich das im vorigen Jahre
Versäumte nachzuholen / sondern sogar die Sonntagsbörse hat auf vier oder
se'ass Wochen Ferien gemacht, ein Entschluß, dessen Heroismus doppelt be¬
wunderungswürdig ist, wenn man bedenkt, daß jetzt das französische Gold
hier ankommt, welches nach dem Glauben der Börsenmänner eine bisher un¬
geahnte Hauffe hervorbringen soll. Die Kisten, welche hier von Zeit zu Zeit
^kommen und deren Beschreibung den Zeitungslesern das Wasser im Munde
zusammenlaufen macht, sind das Wenigste dabei. Der Kern sind die Wechsel
"uf London und Berlin. Hundert Millionen Francs sind in solchen ange¬
kommen, ein kleines Packetchen, zwischen zwei Fingern zu halten, darunter
einer über et Millionen Thaler von Rothschild auf Bleichröder gezogen. Zwei
Drittel sind aber Londoner Wechsel und wenn Herr Camphausen wollte, so
könnte er heut sich an den Engländern grausam für ihre liebenswürdige Neu¬
tralität rächen und ihnen einen Schrecken einjagen, der vielleicht so bald nicht
"ergessen werden würde. Indessen die Börsen sind solidarisch, eine Krisis
England würde auch hier empfunden werden und so ist es nichts mit der
Rache. Hoffentlich geht es mit dem freilich etwas schlimmern französischen Rache¬
durst ebenso. Die Herren in Paris und Versailles treiben es zwar augenblick¬
lich etwas arg und mit dem Nachlassen des äußersten Drucks fangen die Leute
°und in den Provinzen an, sich den Occupations-Truppen recht unangenehm
^ Machen (die deutschen Soldaten, welche 1815 in Frankreich zurück blieben,


dieses Ministerium der Herstellung des deutschen Reiches nicht absolut feind¬
lich zu sein schien? Haben dieselben Ultramontanen nicht gegen die Vertrags¬
treue Baierns beim Ausbruch des deutsch-französischen Krieges gestimmt und
später gegen den Eintritt Baierns in das deutsche Reich auf Grund der Ver-
sailler Abmachungen? Diese Dinge muß man sich immer wieder vergegen¬
wärtigen. Gesetzt aber, Herr von Ketteler wollte behaupten, die jetzigen
Mitglieder der Fraccion des Centrums, Herrn Windthorst eingeschlossen,
seien sämmtlich loyale Förderer des nunmehrigen deutschen Reichs, so bleiben
doch solche Erscheinungen sehr bedenklich, wie die kürzlich zu Königshütte zu
Tage gekommene, wo die Arbeiterunruhen allem Anschein nach nicht durch
sociale, sondern durch klerikale Agitation hervorgerufen worden sind.




Berliner Ariese.

Die Zeit wird still und stiller. Nicht bloß die
Minister fliegen allmählig aus, um wenn irgend möglich das im vorigen Jahre
Versäumte nachzuholen / sondern sogar die Sonntagsbörse hat auf vier oder
se'ass Wochen Ferien gemacht, ein Entschluß, dessen Heroismus doppelt be¬
wunderungswürdig ist, wenn man bedenkt, daß jetzt das französische Gold
hier ankommt, welches nach dem Glauben der Börsenmänner eine bisher un¬
geahnte Hauffe hervorbringen soll. Die Kisten, welche hier von Zeit zu Zeit
^kommen und deren Beschreibung den Zeitungslesern das Wasser im Munde
zusammenlaufen macht, sind das Wenigste dabei. Der Kern sind die Wechsel
"uf London und Berlin. Hundert Millionen Francs sind in solchen ange¬
kommen, ein kleines Packetchen, zwischen zwei Fingern zu halten, darunter
einer über et Millionen Thaler von Rothschild auf Bleichröder gezogen. Zwei
Drittel sind aber Londoner Wechsel und wenn Herr Camphausen wollte, so
könnte er heut sich an den Engländern grausam für ihre liebenswürdige Neu¬
tralität rächen und ihnen einen Schrecken einjagen, der vielleicht so bald nicht
"ergessen werden würde. Indessen die Börsen sind solidarisch, eine Krisis
England würde auch hier empfunden werden und so ist es nichts mit der
Rache. Hoffentlich geht es mit dem freilich etwas schlimmern französischen Rache¬
durst ebenso. Die Herren in Paris und Versailles treiben es zwar augenblick¬
lich etwas arg und mit dem Nachlassen des äußersten Drucks fangen die Leute
°und in den Provinzen an, sich den Occupations-Truppen recht unangenehm
^ Machen (die deutschen Soldaten, welche 1815 in Frankreich zurück blieben,


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[0123] dieses Ministerium der Herstellung des deutschen Reiches nicht absolut feind¬ lich zu sein schien? Haben dieselben Ultramontanen nicht gegen die Vertrags¬ treue Baierns beim Ausbruch des deutsch-französischen Krieges gestimmt und später gegen den Eintritt Baierns in das deutsche Reich auf Grund der Ver- sailler Abmachungen? Diese Dinge muß man sich immer wieder vergegen¬ wärtigen. Gesetzt aber, Herr von Ketteler wollte behaupten, die jetzigen Mitglieder der Fraccion des Centrums, Herrn Windthorst eingeschlossen, seien sämmtlich loyale Förderer des nunmehrigen deutschen Reichs, so bleiben doch solche Erscheinungen sehr bedenklich, wie die kürzlich zu Königshütte zu Tage gekommene, wo die Arbeiterunruhen allem Anschein nach nicht durch sociale, sondern durch klerikale Agitation hervorgerufen worden sind. Berliner Ariese. Die Zeit wird still und stiller. Nicht bloß die Minister fliegen allmählig aus, um wenn irgend möglich das im vorigen Jahre Versäumte nachzuholen / sondern sogar die Sonntagsbörse hat auf vier oder se'ass Wochen Ferien gemacht, ein Entschluß, dessen Heroismus doppelt be¬ wunderungswürdig ist, wenn man bedenkt, daß jetzt das französische Gold hier ankommt, welches nach dem Glauben der Börsenmänner eine bisher un¬ geahnte Hauffe hervorbringen soll. Die Kisten, welche hier von Zeit zu Zeit ^kommen und deren Beschreibung den Zeitungslesern das Wasser im Munde zusammenlaufen macht, sind das Wenigste dabei. Der Kern sind die Wechsel "uf London und Berlin. Hundert Millionen Francs sind in solchen ange¬ kommen, ein kleines Packetchen, zwischen zwei Fingern zu halten, darunter einer über et Millionen Thaler von Rothschild auf Bleichröder gezogen. Zwei Drittel sind aber Londoner Wechsel und wenn Herr Camphausen wollte, so könnte er heut sich an den Engländern grausam für ihre liebenswürdige Neu¬ tralität rächen und ihnen einen Schrecken einjagen, der vielleicht so bald nicht "ergessen werden würde. Indessen die Börsen sind solidarisch, eine Krisis England würde auch hier empfunden werden und so ist es nichts mit der Rache. Hoffentlich geht es mit dem freilich etwas schlimmern französischen Rache¬ durst ebenso. Die Herren in Paris und Versailles treiben es zwar augenblick¬ lich etwas arg und mit dem Nachlassen des äußersten Drucks fangen die Leute °und in den Provinzen an, sich den Occupations-Truppen recht unangenehm ^ Machen (die deutschen Soldaten, welche 1815 in Frankreich zurück blieben,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/123>, abgerufen am 02.05.2024.