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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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in diesem Zustand, welcher gewiß sehr gut sei, solange Napoleon das Pro-
tectorat führe, kein anderes Verhältniß als das des Sklaven zum Herrn.

Nach diesen Betrachtungen, die der eine der beiden Briefschreiber ent¬
wickelt, glaubt man ihm, daß er "mit herzzerschneidendem Schmerze" die
Unabhängigkeit des Vaterlandes hat untergehen sehen. Aber er will sich fas¬
sen in dem Glauben, daß die Nachkommen "Menschen sein werden, in wel¬
chen noch eine Seele lebt, denen folglich nicht jedes Leben genügen wird,
sondern die über sich und ihre Familie hinaus zu denken vermögen, um zu
fühlen, wie viel es werth ist ein Vaterland zu haben". Zum Schlüsse kommt
noch einmal der andere Briefschreiber zum Worte, um zu sagen, daß "das
Getreide der Publicisten, um Rechte zu deduciren, welches ihm vorher kaum
erfreulich gewesen, jetzt ihm in tiefster Seele zuwider sei".

Wenig bekannt, wie die Schrift selbst, ist auch die Thatsache, daß ihr
Verfasser Heinrich Luden ist, der sie, "als die Göttinger Censur sie zurück¬
wies, in Jena, wo die Professoren damals noch Censurfreiheit genossen, auf
seine eigene Gefahr drucken ließ" (s. K. Th. Pabst, Th. Müllers Jugend¬
leben. Aarau, 1861. S. 67).




Iranzosenspiegel.

So könnte man eine kleine, recht ansprechend geschriebene Schrift nen¬
nen, die unter dem Titel "I^ittSraturo ÜÄNtzlÜLv xenälmt, 1a guerrs as
1870--71. ?g,r un IZerlinmL" soeben im Verlag von Stille und van Muy-
den zu Berlin erschienen ist, und die durch geschickt ausgewählte und gut
gruppirte Beispiele aus den während des letzten Krieges französischerseits
veröffentlichten Büchern und Flugschriften sowie aus gleichzeitigen Zeitungs¬
stimmen ein treffendes Bild jenes Gemisches von Aufgeblasenheit und Prah¬
lerei, Verlogenheit und Selbstbetrug, Brutalität und Sentimentalität, heil¬
loser Leichtgläubigkeit und unheilbarer Leichtfertigkeit giebt, welches den Grund¬
charakter des heutigen französischen Volkes oder doch der Mehrheit der Pariser
und des den Ton angehenden Theils der Nation bildet. Dieser Charakter
dreht sich vor dem Beschauer in dem Buche, wie eine jener Modefiguren, die
uns in den Schaufenstern von Coiffeurs und Damenkleiderhandlungen den
in Paris herrschenden Geschmack zeigen, und der Verfasser begleitet diese
Drehungen mit feinem kühlem Sarkasmus.

"Die Preußen haben uns Metz, Straßburg u. a. genommen," ließ sich
vor einiger Zeit ein pariser Flüchtling im Feuilleton der "Jndep. Belge" ver-


in diesem Zustand, welcher gewiß sehr gut sei, solange Napoleon das Pro-
tectorat führe, kein anderes Verhältniß als das des Sklaven zum Herrn.

Nach diesen Betrachtungen, die der eine der beiden Briefschreiber ent¬
wickelt, glaubt man ihm, daß er „mit herzzerschneidendem Schmerze" die
Unabhängigkeit des Vaterlandes hat untergehen sehen. Aber er will sich fas¬
sen in dem Glauben, daß die Nachkommen „Menschen sein werden, in wel¬
chen noch eine Seele lebt, denen folglich nicht jedes Leben genügen wird,
sondern die über sich und ihre Familie hinaus zu denken vermögen, um zu
fühlen, wie viel es werth ist ein Vaterland zu haben". Zum Schlüsse kommt
noch einmal der andere Briefschreiber zum Worte, um zu sagen, daß „das
Getreide der Publicisten, um Rechte zu deduciren, welches ihm vorher kaum
erfreulich gewesen, jetzt ihm in tiefster Seele zuwider sei".

Wenig bekannt, wie die Schrift selbst, ist auch die Thatsache, daß ihr
Verfasser Heinrich Luden ist, der sie, „als die Göttinger Censur sie zurück¬
wies, in Jena, wo die Professoren damals noch Censurfreiheit genossen, auf
seine eigene Gefahr drucken ließ" (s. K. Th. Pabst, Th. Müllers Jugend¬
leben. Aarau, 1861. S. 67).




Iranzosenspiegel.

So könnte man eine kleine, recht ansprechend geschriebene Schrift nen¬
nen, die unter dem Titel „I^ittSraturo ÜÄNtzlÜLv xenälmt, 1a guerrs as
1870—71. ?g,r un IZerlinmL" soeben im Verlag von Stille und van Muy-
den zu Berlin erschienen ist, und die durch geschickt ausgewählte und gut
gruppirte Beispiele aus den während des letzten Krieges französischerseits
veröffentlichten Büchern und Flugschriften sowie aus gleichzeitigen Zeitungs¬
stimmen ein treffendes Bild jenes Gemisches von Aufgeblasenheit und Prah¬
lerei, Verlogenheit und Selbstbetrug, Brutalität und Sentimentalität, heil¬
loser Leichtgläubigkeit und unheilbarer Leichtfertigkeit giebt, welches den Grund¬
charakter des heutigen französischen Volkes oder doch der Mehrheit der Pariser
und des den Ton angehenden Theils der Nation bildet. Dieser Charakter
dreht sich vor dem Beschauer in dem Buche, wie eine jener Modefiguren, die
uns in den Schaufenstern von Coiffeurs und Damenkleiderhandlungen den
in Paris herrschenden Geschmack zeigen, und der Verfasser begleitet diese
Drehungen mit feinem kühlem Sarkasmus.

„Die Preußen haben uns Metz, Straßburg u. a. genommen," ließ sich
vor einiger Zeit ein pariser Flüchtling im Feuilleton der „Jndep. Belge" ver-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/435>, abgerufen am 02.05.2024.