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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band.

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Mfferuf für Khicago.

Der größte Theil Chicago's, der "Deutschen Stadt" des amerikanischen
Westens, ist in Asche gesunken!

An Hunderttausend Menschen sehen obdachlos, mittellos, dem harten
Winter entgegen. Hunderte haben in der Schreckensnacht, als das fürchter¬
liche Element entfesselt über die friedlichen Schlaf- und Wohnstätten der Stadt
hinloderte, ihre Ernährer und Erhalter verloren. Unsre deutschen Brüder,
die mit Vorliebe in Chicago den Kreis ihres Wirkens suchten, wenn sie über
den Ocean gezogen waren, sind durch das ungeheure Brandunglück vor
Allen hart betroffen. Denn sie gehören zu den betriebsamsten, geachtetsten
und begütertsten Bürgern der schwergeprüften Stadt. Viele unsrer Lands¬
leute saßen in der Gemeindevertretung und im Stadtrath von Chicago; die
besten Firmen der Stadt hatten deutschen Klang, Aber gerade die Haupt¬
sitze des geschäftlichen Lebens und Verkehrs haben die Flammen von Grund
aus zerstört. Noch fehlen genaue Ziffern darüber, wie sich Verluste und
Opfer unter Amerikaner und Deutsche vertheilen --> aber da in der Stadt
von über 300,000 Einwohnern mindestens ein Drittel aus Deutschen bestand,
so greifen wir keinesfalls zu hoch, wenn wir annehmen, daß wohl der dritte
Theil des ungeheuren Verlustes von einer halben Milliarde Dollars zerstör¬
ter Werthe, und der noch schmerzlichere an Hunderten vernichteter Menschen¬
leben Angehörige unsres Blutes betroffen hat, daß mindestens 23,000 Deutsche
obdachlos über dem zerstörten, in der Fremde schwererrungenen Heerd und Eigen
umherirren. Wie Manchem unter ihnen ist die Mühe eines ganzen harten
Manneslebens für immer vernichtet!

Hülfe, rasche Hülfe thut noth!

Niemand unter uns mag sich der Pflicht seines Beitrags entledigt glau¬
ben, weil uns der Telegraph zugleich mit der Schreckenskunde die tröstliche
Versicherung erster liebebereiter Hülfe der Schwesterstädte Amerika's überbrachte.
Niemand mag sich getrösten, daß ohne sein Zuthun die wunderbare Spann¬
kraft amerikanischer Verhältnisse, welche Chicago in fünfunddreißig Jahren
von einem Beobachtungsposten an der Grenze der indianischen Wildniß zur
Centralstelle des Getreide- und Schlachtviehexporthandels der nordamerikani¬
schen Freistaaten erhob, den armen Opfern der Brautnacht Hülfe und Lin¬
derung schaffen, oder daß gar die eigenen, sonst für die Ausfuhr bestimmten
Vorräthe der Stadt ihren Bürgern Auskommen gewähren könnten. Denn
Jeder kann sich berechnen, in welch ungeahntem Maße dieses Verhängnis)
die größten Unglücksfälle überragt, welche seit Jahrhunderten die Wuth ent¬
fesselter Naturgewalten über menschliche Stätten und die Errungenschaften


Mfferuf für Khicago.

Der größte Theil Chicago's, der „Deutschen Stadt" des amerikanischen
Westens, ist in Asche gesunken!

An Hunderttausend Menschen sehen obdachlos, mittellos, dem harten
Winter entgegen. Hunderte haben in der Schreckensnacht, als das fürchter¬
liche Element entfesselt über die friedlichen Schlaf- und Wohnstätten der Stadt
hinloderte, ihre Ernährer und Erhalter verloren. Unsre deutschen Brüder,
die mit Vorliebe in Chicago den Kreis ihres Wirkens suchten, wenn sie über
den Ocean gezogen waren, sind durch das ungeheure Brandunglück vor
Allen hart betroffen. Denn sie gehören zu den betriebsamsten, geachtetsten
und begütertsten Bürgern der schwergeprüften Stadt. Viele unsrer Lands¬
leute saßen in der Gemeindevertretung und im Stadtrath von Chicago; die
besten Firmen der Stadt hatten deutschen Klang, Aber gerade die Haupt¬
sitze des geschäftlichen Lebens und Verkehrs haben die Flammen von Grund
aus zerstört. Noch fehlen genaue Ziffern darüber, wie sich Verluste und
Opfer unter Amerikaner und Deutsche vertheilen —> aber da in der Stadt
von über 300,000 Einwohnern mindestens ein Drittel aus Deutschen bestand,
so greifen wir keinesfalls zu hoch, wenn wir annehmen, daß wohl der dritte
Theil des ungeheuren Verlustes von einer halben Milliarde Dollars zerstör¬
ter Werthe, und der noch schmerzlichere an Hunderten vernichteter Menschen¬
leben Angehörige unsres Blutes betroffen hat, daß mindestens 23,000 Deutsche
obdachlos über dem zerstörten, in der Fremde schwererrungenen Heerd und Eigen
umherirren. Wie Manchem unter ihnen ist die Mühe eines ganzen harten
Manneslebens für immer vernichtet!

Hülfe, rasche Hülfe thut noth!

Niemand unter uns mag sich der Pflicht seines Beitrags entledigt glau¬
ben, weil uns der Telegraph zugleich mit der Schreckenskunde die tröstliche
Versicherung erster liebebereiter Hülfe der Schwesterstädte Amerika's überbrachte.
Niemand mag sich getrösten, daß ohne sein Zuthun die wunderbare Spann¬
kraft amerikanischer Verhältnisse, welche Chicago in fünfunddreißig Jahren
von einem Beobachtungsposten an der Grenze der indianischen Wildniß zur
Centralstelle des Getreide- und Schlachtviehexporthandels der nordamerikani¬
schen Freistaaten erhob, den armen Opfern der Brautnacht Hülfe und Lin¬
derung schaffen, oder daß gar die eigenen, sonst für die Ausfuhr bestimmten
Vorräthe der Stadt ihren Bürgern Auskommen gewähren könnten. Denn
Jeder kann sich berechnen, in welch ungeahntem Maße dieses Verhängnis)
die größten Unglücksfälle überragt, welche seit Jahrhunderten die Wuth ent¬
fesselter Naturgewalten über menschliche Stätten und die Errungenschaften


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[0126] Mfferuf für Khicago. Der größte Theil Chicago's, der „Deutschen Stadt" des amerikanischen Westens, ist in Asche gesunken! An Hunderttausend Menschen sehen obdachlos, mittellos, dem harten Winter entgegen. Hunderte haben in der Schreckensnacht, als das fürchter¬ liche Element entfesselt über die friedlichen Schlaf- und Wohnstätten der Stadt hinloderte, ihre Ernährer und Erhalter verloren. Unsre deutschen Brüder, die mit Vorliebe in Chicago den Kreis ihres Wirkens suchten, wenn sie über den Ocean gezogen waren, sind durch das ungeheure Brandunglück vor Allen hart betroffen. Denn sie gehören zu den betriebsamsten, geachtetsten und begütertsten Bürgern der schwergeprüften Stadt. Viele unsrer Lands¬ leute saßen in der Gemeindevertretung und im Stadtrath von Chicago; die besten Firmen der Stadt hatten deutschen Klang, Aber gerade die Haupt¬ sitze des geschäftlichen Lebens und Verkehrs haben die Flammen von Grund aus zerstört. Noch fehlen genaue Ziffern darüber, wie sich Verluste und Opfer unter Amerikaner und Deutsche vertheilen —> aber da in der Stadt von über 300,000 Einwohnern mindestens ein Drittel aus Deutschen bestand, so greifen wir keinesfalls zu hoch, wenn wir annehmen, daß wohl der dritte Theil des ungeheuren Verlustes von einer halben Milliarde Dollars zerstör¬ ter Werthe, und der noch schmerzlichere an Hunderten vernichteter Menschen¬ leben Angehörige unsres Blutes betroffen hat, daß mindestens 23,000 Deutsche obdachlos über dem zerstörten, in der Fremde schwererrungenen Heerd und Eigen umherirren. Wie Manchem unter ihnen ist die Mühe eines ganzen harten Manneslebens für immer vernichtet! Hülfe, rasche Hülfe thut noth! Niemand unter uns mag sich der Pflicht seines Beitrags entledigt glau¬ ben, weil uns der Telegraph zugleich mit der Schreckenskunde die tröstliche Versicherung erster liebebereiter Hülfe der Schwesterstädte Amerika's überbrachte. Niemand mag sich getrösten, daß ohne sein Zuthun die wunderbare Spann¬ kraft amerikanischer Verhältnisse, welche Chicago in fünfunddreißig Jahren von einem Beobachtungsposten an der Grenze der indianischen Wildniß zur Centralstelle des Getreide- und Schlachtviehexporthandels der nordamerikani¬ schen Freistaaten erhob, den armen Opfern der Brautnacht Hülfe und Lin¬ derung schaffen, oder daß gar die eigenen, sonst für die Ausfuhr bestimmten Vorräthe der Stadt ihren Bürgern Auskommen gewähren könnten. Denn Jeder kann sich berechnen, in welch ungeahntem Maße dieses Verhängnis) die größten Unglücksfälle überragt, welche seit Jahrhunderten die Wuth ent¬ fesselter Naturgewalten über menschliche Stätten und die Errungenschaften

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_192299/126>, abgerufen am 08.05.2024.