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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band.

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Die Mormonen am großen Salzsee.
1. Die Geschichte der Secte.

Vom großen Salzsee jenseit der Rocky Mountains kommt die Kunde,
daß die Regierung Arete Scans endlich begonnen hat, der scandalösen Ano¬
malie des neunzehnten Jahrhunderts, die sich die "Gemeine der Heiligen vom
jüngsten Tage" nennt, und die wir Profanen mit dem Namen des Mormo-
nenthums bezeichnen, endlich ein Ende zu machen. Fast ein Viertelsäculum
spielte diese greuelvolle Posse in der Einsamkeit hinter der Prairienwüste des
Fernen Westens, schwer erreichbar vom Arm des Gesetzes, für uns von Halb¬
dunkel umhüllt, und von freundlichen und feindlichen Fabeln umwoben. Jetzt
haben Eisenbahn und Telegraph ihr längst erwartetes Werk gethan, das
Halbdunkel wurde zu Licht, die Fabeln zerrannen, die Mormonen sind mit
der civilisirten Welt in Verbindung gebracht und werden sich nun ihren Re¬
geln und Anforderungen zu fügen haben, oder sich entschließen müssen, den
drei "Auszügen aus Aegyptenland," in denen sie vor den Geboten der Civili¬
sation entwichen, einen vierten folgen zu lassen und ihr Zion auf die Sand-
Wichs-Jnseln zu verlegen, wo ihre Apostel bereits seit Jahren ein Asyl für
die Brüder bereitet haben.

Geschichte, Glaube, Organisation und Sitte der Mormonen liegen in
verschiedenen mehr oder minder ausführlichen Darstellungen vor. Aber alle
send lückenhaft, die Meisten von zu viel Wohlwollen oder zu viel Abneigung
dictirt. Die gründlichste und gewissenhafteste Schrift über diesen großartigen
religiösen Humbug ist unstreitig die von Moritz Busch*), die aber gleichfalls
noch der Ergänzung bedarf. Im Folgenden geben wir eine Skizze dieser Er¬
scheinung, die manchem Leser wie ein häßliches Gespenst oder wie ein Stück
auf die Erde gefallenes Mondmenschenthum vorkommen wird, die uns aber
nicht zu sehr wundern darf, wenn wir daran die Thatsache halten, daß der



") Geschichte der Mormonen nebst einer Darstellung ihres Glaubens und ihrer ge¬
genwärtigen socialen und politischen Verhältnisse von Or. Moritz Busch. Leipzig, Verlag
von Ambrosius Abel. 1870.
Grenzboten II. 1871. 106
Die Mormonen am großen Salzsee.
1. Die Geschichte der Secte.

Vom großen Salzsee jenseit der Rocky Mountains kommt die Kunde,
daß die Regierung Arete Scans endlich begonnen hat, der scandalösen Ano¬
malie des neunzehnten Jahrhunderts, die sich die „Gemeine der Heiligen vom
jüngsten Tage" nennt, und die wir Profanen mit dem Namen des Mormo-
nenthums bezeichnen, endlich ein Ende zu machen. Fast ein Viertelsäculum
spielte diese greuelvolle Posse in der Einsamkeit hinter der Prairienwüste des
Fernen Westens, schwer erreichbar vom Arm des Gesetzes, für uns von Halb¬
dunkel umhüllt, und von freundlichen und feindlichen Fabeln umwoben. Jetzt
haben Eisenbahn und Telegraph ihr längst erwartetes Werk gethan, das
Halbdunkel wurde zu Licht, die Fabeln zerrannen, die Mormonen sind mit
der civilisirten Welt in Verbindung gebracht und werden sich nun ihren Re¬
geln und Anforderungen zu fügen haben, oder sich entschließen müssen, den
drei „Auszügen aus Aegyptenland," in denen sie vor den Geboten der Civili¬
sation entwichen, einen vierten folgen zu lassen und ihr Zion auf die Sand-
Wichs-Jnseln zu verlegen, wo ihre Apostel bereits seit Jahren ein Asyl für
die Brüder bereitet haben.

Geschichte, Glaube, Organisation und Sitte der Mormonen liegen in
verschiedenen mehr oder minder ausführlichen Darstellungen vor. Aber alle
send lückenhaft, die Meisten von zu viel Wohlwollen oder zu viel Abneigung
dictirt. Die gründlichste und gewissenhafteste Schrift über diesen großartigen
religiösen Humbug ist unstreitig die von Moritz Busch*), die aber gleichfalls
noch der Ergänzung bedarf. Im Folgenden geben wir eine Skizze dieser Er¬
scheinung, die manchem Leser wie ein häßliches Gespenst oder wie ein Stück
auf die Erde gefallenes Mondmenschenthum vorkommen wird, die uns aber
nicht zu sehr wundern darf, wenn wir daran die Thatsache halten, daß der



") Geschichte der Mormonen nebst einer Darstellung ihres Glaubens und ihrer ge¬
genwärtigen socialen und politischen Verhältnisse von Or. Moritz Busch. Leipzig, Verlag
von Ambrosius Abel. 1870.
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[0289] Die Mormonen am großen Salzsee. 1. Die Geschichte der Secte. Vom großen Salzsee jenseit der Rocky Mountains kommt die Kunde, daß die Regierung Arete Scans endlich begonnen hat, der scandalösen Ano¬ malie des neunzehnten Jahrhunderts, die sich die „Gemeine der Heiligen vom jüngsten Tage" nennt, und die wir Profanen mit dem Namen des Mormo- nenthums bezeichnen, endlich ein Ende zu machen. Fast ein Viertelsäculum spielte diese greuelvolle Posse in der Einsamkeit hinter der Prairienwüste des Fernen Westens, schwer erreichbar vom Arm des Gesetzes, für uns von Halb¬ dunkel umhüllt, und von freundlichen und feindlichen Fabeln umwoben. Jetzt haben Eisenbahn und Telegraph ihr längst erwartetes Werk gethan, das Halbdunkel wurde zu Licht, die Fabeln zerrannen, die Mormonen sind mit der civilisirten Welt in Verbindung gebracht und werden sich nun ihren Re¬ geln und Anforderungen zu fügen haben, oder sich entschließen müssen, den drei „Auszügen aus Aegyptenland," in denen sie vor den Geboten der Civili¬ sation entwichen, einen vierten folgen zu lassen und ihr Zion auf die Sand- Wichs-Jnseln zu verlegen, wo ihre Apostel bereits seit Jahren ein Asyl für die Brüder bereitet haben. Geschichte, Glaube, Organisation und Sitte der Mormonen liegen in verschiedenen mehr oder minder ausführlichen Darstellungen vor. Aber alle send lückenhaft, die Meisten von zu viel Wohlwollen oder zu viel Abneigung dictirt. Die gründlichste und gewissenhafteste Schrift über diesen großartigen religiösen Humbug ist unstreitig die von Moritz Busch*), die aber gleichfalls noch der Ergänzung bedarf. Im Folgenden geben wir eine Skizze dieser Er¬ scheinung, die manchem Leser wie ein häßliches Gespenst oder wie ein Stück auf die Erde gefallenes Mondmenschenthum vorkommen wird, die uns aber nicht zu sehr wundern darf, wenn wir daran die Thatsache halten, daß der ") Geschichte der Mormonen nebst einer Darstellung ihres Glaubens und ihrer ge¬ genwärtigen socialen und politischen Verhältnisse von Or. Moritz Busch. Leipzig, Verlag von Ambrosius Abel. 1870. Grenzboten II. 1871. 106

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_192299/289>, abgerufen am 08.05.2024.