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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band.

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Nach längerer Unterbrechung unserer Correspondenz blicken wir dießmal
mit Befriedigung auf die unverkennbaren großen Fortschritte zurück, welche
die Entwickelung unseres ganzen Staatswesens im letzten halben Jahr aus
der seit 1870 betretenen Bahn gemacht hat. Die öffentliche Meinung hat sich
bereits in die neuen Verhältnisse eingelebt, und die Thatsache, daß der Mittel¬
punkt unseres öffentlichen Lebens in Berlin und nicht mehr im Stuttgarter
Halbmondsaal zu suchen ist, wird überall als so selbstverständlich betrachtet, daß
selbst die verbissensten Feinde des Reichs, die Ultramontanen und die Schäffle-
Fi:esesche Clique mit ihrem schwäbischen Anhang, sie als eine vollendete hinzu¬
nehmen genöthigt sind. Zwar scheinen sich oft noch der Durchführung der neuen
Ordnung der Dinge fast unüberwindliche Hindernisse entgegen zu stellen, allein
der Erfolg hat stets gezeigt, daß unmöglich ist, den durch die neugeschaffene
politische Situation vorgezeichneten Gang der Entwicklung auch nur kurze Zeit
durch die Rücksicht auf die Stimmungen und Interessen der Hofkreise aufzu¬
halten. Man trennt sich natürlich in letzteren nur schwer von manchen her¬
gebrachten Prärogativen, wie man auch andererseits den gewaltigen Schutz,
welchen das deutsche Reich nach außen, wie gegenüber den Feinden der so¬
cialen Ordnung verspricht, gerne acceptirt; die Verhältnisse sind in dieser Be¬
ziehung ganz andere in Stuttgart, als in Carlsruhe und München. Die
Stellung der Minister in diesem fortwährenden Conflict zwischen den Anfor¬
derungen des neuen Reichsrechts und den persönlichen Neigungen der maß'
gebenden Kreise in Stuttgart ist daher eine höchst difficile und nicht gerade
beneidenswerthe, Sie sind sich offenbar darüber klar, daß ein fester Rückhalt
in Berlin für sie mehr Werth hat, als gewisse persönliche Sympathien in
Stuttgart, und sie betrachten theilweise die in Berlin errungene Stellung als
eine Versicherung gegen die Launen der Hofgunst, welche früher die beliebige
Entlassung der Minister als das werthvollste Attribut des Herrscherthums be¬
trachtete. Daher das Streben, vor allem in Berlin Boden zu gewinnen, det
letzte Erinnerung an die zollparlamentliche Vergangenheit zu verwischen,
gleich aber in Stuttgart jede Eifersucht möglichst zu zerstreuen und dagegen
die Ueberzeugung zu erwecken, daß die Minister im Bundesrath und Reichs
tag einzig und allein darauf bedacht seien, die Sonderrechte der Krone und
des Landes zu wahren. Um Letzteres zu ermöglichen, ist nöthig, von Zeit
Zeit gewisse Trophäen -- wie die landesherrlichen Köpfe auf den neuen Gold'
münzen -- aus Berlin nach Hause zu bringen. Leider sind auch diese nur
mit Hilfe des Reichskanzlers zu erringen. Man hat daher, da man dieß fühlt,
in Stuttgart nachgerade allen Geschmack an der Politik dergestalt verloren,
daß man den Ministern in den wichtigsten staatsrechtlichen Fragen völlig freie


Nach längerer Unterbrechung unserer Correspondenz blicken wir dießmal
mit Befriedigung auf die unverkennbaren großen Fortschritte zurück, welche
die Entwickelung unseres ganzen Staatswesens im letzten halben Jahr aus
der seit 1870 betretenen Bahn gemacht hat. Die öffentliche Meinung hat sich
bereits in die neuen Verhältnisse eingelebt, und die Thatsache, daß der Mittel¬
punkt unseres öffentlichen Lebens in Berlin und nicht mehr im Stuttgarter
Halbmondsaal zu suchen ist, wird überall als so selbstverständlich betrachtet, daß
selbst die verbissensten Feinde des Reichs, die Ultramontanen und die Schäffle-
Fi:esesche Clique mit ihrem schwäbischen Anhang, sie als eine vollendete hinzu¬
nehmen genöthigt sind. Zwar scheinen sich oft noch der Durchführung der neuen
Ordnung der Dinge fast unüberwindliche Hindernisse entgegen zu stellen, allein
der Erfolg hat stets gezeigt, daß unmöglich ist, den durch die neugeschaffene
politische Situation vorgezeichneten Gang der Entwicklung auch nur kurze Zeit
durch die Rücksicht auf die Stimmungen und Interessen der Hofkreise aufzu¬
halten. Man trennt sich natürlich in letzteren nur schwer von manchen her¬
gebrachten Prärogativen, wie man auch andererseits den gewaltigen Schutz,
welchen das deutsche Reich nach außen, wie gegenüber den Feinden der so¬
cialen Ordnung verspricht, gerne acceptirt; die Verhältnisse sind in dieser Be¬
ziehung ganz andere in Stuttgart, als in Carlsruhe und München. Die
Stellung der Minister in diesem fortwährenden Conflict zwischen den Anfor¬
derungen des neuen Reichsrechts und den persönlichen Neigungen der maß'
gebenden Kreise in Stuttgart ist daher eine höchst difficile und nicht gerade
beneidenswerthe, Sie sind sich offenbar darüber klar, daß ein fester Rückhalt
in Berlin für sie mehr Werth hat, als gewisse persönliche Sympathien in
Stuttgart, und sie betrachten theilweise die in Berlin errungene Stellung als
eine Versicherung gegen die Launen der Hofgunst, welche früher die beliebige
Entlassung der Minister als das werthvollste Attribut des Herrscherthums be¬
trachtete. Daher das Streben, vor allem in Berlin Boden zu gewinnen, det
letzte Erinnerung an die zollparlamentliche Vergangenheit zu verwischen,
gleich aber in Stuttgart jede Eifersucht möglichst zu zerstreuen und dagegen
die Ueberzeugung zu erwecken, daß die Minister im Bundesrath und Reichs
tag einzig und allein darauf bedacht seien, die Sonderrechte der Krone und
des Landes zu wahren. Um Letzteres zu ermöglichen, ist nöthig, von Zeit
Zeit gewisse Trophäen — wie die landesherrlichen Köpfe auf den neuen Gold'
münzen — aus Berlin nach Hause zu bringen. Leider sind auch diese nur
mit Hilfe des Reichskanzlers zu erringen. Man hat daher, da man dieß fühlt,
in Stuttgart nachgerade allen Geschmack an der Politik dergestalt verloren,
daß man den Ministern in den wichtigsten staatsrechtlichen Fragen völlig freie


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[0390] Nach längerer Unterbrechung unserer Correspondenz blicken wir dießmal mit Befriedigung auf die unverkennbaren großen Fortschritte zurück, welche die Entwickelung unseres ganzen Staatswesens im letzten halben Jahr aus der seit 1870 betretenen Bahn gemacht hat. Die öffentliche Meinung hat sich bereits in die neuen Verhältnisse eingelebt, und die Thatsache, daß der Mittel¬ punkt unseres öffentlichen Lebens in Berlin und nicht mehr im Stuttgarter Halbmondsaal zu suchen ist, wird überall als so selbstverständlich betrachtet, daß selbst die verbissensten Feinde des Reichs, die Ultramontanen und die Schäffle- Fi:esesche Clique mit ihrem schwäbischen Anhang, sie als eine vollendete hinzu¬ nehmen genöthigt sind. Zwar scheinen sich oft noch der Durchführung der neuen Ordnung der Dinge fast unüberwindliche Hindernisse entgegen zu stellen, allein der Erfolg hat stets gezeigt, daß unmöglich ist, den durch die neugeschaffene politische Situation vorgezeichneten Gang der Entwicklung auch nur kurze Zeit durch die Rücksicht auf die Stimmungen und Interessen der Hofkreise aufzu¬ halten. Man trennt sich natürlich in letzteren nur schwer von manchen her¬ gebrachten Prärogativen, wie man auch andererseits den gewaltigen Schutz, welchen das deutsche Reich nach außen, wie gegenüber den Feinden der so¬ cialen Ordnung verspricht, gerne acceptirt; die Verhältnisse sind in dieser Be¬ ziehung ganz andere in Stuttgart, als in Carlsruhe und München. Die Stellung der Minister in diesem fortwährenden Conflict zwischen den Anfor¬ derungen des neuen Reichsrechts und den persönlichen Neigungen der maß' gebenden Kreise in Stuttgart ist daher eine höchst difficile und nicht gerade beneidenswerthe, Sie sind sich offenbar darüber klar, daß ein fester Rückhalt in Berlin für sie mehr Werth hat, als gewisse persönliche Sympathien in Stuttgart, und sie betrachten theilweise die in Berlin errungene Stellung als eine Versicherung gegen die Launen der Hofgunst, welche früher die beliebige Entlassung der Minister als das werthvollste Attribut des Herrscherthums be¬ trachtete. Daher das Streben, vor allem in Berlin Boden zu gewinnen, det letzte Erinnerung an die zollparlamentliche Vergangenheit zu verwischen, gleich aber in Stuttgart jede Eifersucht möglichst zu zerstreuen und dagegen die Ueberzeugung zu erwecken, daß die Minister im Bundesrath und Reichs tag einzig und allein darauf bedacht seien, die Sonderrechte der Krone und des Landes zu wahren. Um Letzteres zu ermöglichen, ist nöthig, von Zeit Zeit gewisse Trophäen — wie die landesherrlichen Köpfe auf den neuen Gold' münzen — aus Berlin nach Hause zu bringen. Leider sind auch diese nur mit Hilfe des Reichskanzlers zu erringen. Man hat daher, da man dieß fühlt, in Stuttgart nachgerade allen Geschmack an der Politik dergestalt verloren, daß man den Ministern in den wichtigsten staatsrechtlichen Fragen völlig freie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_192299/390>, abgerufen am 08.05.2024.