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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. I. Band.

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machende Wahrheit zu besitzen und zu lehren glaubt, sie wird je lebendiger
ihr Glauben ist, desto eifriger dafür wirken, daß alle Welt dieser Wahrheit
und ihrer beseligenden Folgen theilhaftig werde. Wie schmal aber ist die
Linie, welche den Bekehrungseifer von der Verketzerung Andersdenkender scheidet!
Die Geschichte aller Kirchen und Confessionen wenigstens hat es mit zahlreichen
Beispielen gezeigt, daß es gerade für den eifrigsten Bekenner sehr schwer ist,
jene schmale Grenzlinie niemals zu überschreiten!

Noch mehr, wenn unsere Protestanten heute sich so heftig gegen die In¬
quisition auslassen, so möchten wir ihnen die Frage vorlegen, welches Urtheil
sie über die doch so verwandten Erscheinungen im Kreise der protestantischen
Reformation aussprechen wollen? War etwa Calvins theokratischer Despotis¬
mus, dem mehr als ein Opfer gefallen ist, aus anderem Geiste geflossen? Oder
stehen die unsicheren Widersprüche und Sophismen, in welche unsere deut¬
schen Reformatoren sich verwickelt, sittlich so viel höher als die Maximen der
Spanier? Nein, Toleranz gegen andere Religionen und andere Ueberzeugungen
ist eine Tugend noch jungen Datums: mögen immerhin einzelne Geister früher
sie proclamirt haben, als allgemeine Tendenz der gebildeten Menschen ist die
Toleranz ein Produkt der Philosophie des vorigen Jahrhunderts.

Nach unseren modernen Anschauungen dürfen wir nicht Menschen und
Einrichtungen des 16. Jahrhunderts beurtheilen; wenigstens hat eine Ver¬
dammung, wenn sie einmal ausgesprochen werden soll, alle Seiten und alle
Parteien mit gleicher Gerechtigkeit zu treffen.


W. Maurenbrecher.


Die weißen Irüder vom KMm-Aar.
ii.

Unser Berichterstatter schreibt weiter:

Uorkville in Südcarolina, 10. November. Jeden Tag kommen neue
erschreckte und bußfertige Sünder vom Lande draußen an, einige zu Fuß,
andere zu Pferde, wieder andere in Wagen von Maulthieren gezogen, um sich
bei Major Merrill zu melden und ganz oder theilweise zu bekennen, was sie
von der Verschwörung wissen, worauf sie gewöhnlich unter dem Versprechen,
nicht davon zu laufen und sich auf Verlangen jeder Zeit wieder einzustellen,
'um die Erlaubniß bitten, nach Hause zu gehen. Die auf diese Art wieder
Freigelassenen belaufen sich auf mehr als dreihundert. Beim Abschied vom
Major oder Staatsanwalt heißt es gewöhnlich: "Sie gehen nach Hause und
bleiben dort und besorgen Ihr Geschäft, und wenn man Sie braucht, wird


machende Wahrheit zu besitzen und zu lehren glaubt, sie wird je lebendiger
ihr Glauben ist, desto eifriger dafür wirken, daß alle Welt dieser Wahrheit
und ihrer beseligenden Folgen theilhaftig werde. Wie schmal aber ist die
Linie, welche den Bekehrungseifer von der Verketzerung Andersdenkender scheidet!
Die Geschichte aller Kirchen und Confessionen wenigstens hat es mit zahlreichen
Beispielen gezeigt, daß es gerade für den eifrigsten Bekenner sehr schwer ist,
jene schmale Grenzlinie niemals zu überschreiten!

Noch mehr, wenn unsere Protestanten heute sich so heftig gegen die In¬
quisition auslassen, so möchten wir ihnen die Frage vorlegen, welches Urtheil
sie über die doch so verwandten Erscheinungen im Kreise der protestantischen
Reformation aussprechen wollen? War etwa Calvins theokratischer Despotis¬
mus, dem mehr als ein Opfer gefallen ist, aus anderem Geiste geflossen? Oder
stehen die unsicheren Widersprüche und Sophismen, in welche unsere deut¬
schen Reformatoren sich verwickelt, sittlich so viel höher als die Maximen der
Spanier? Nein, Toleranz gegen andere Religionen und andere Ueberzeugungen
ist eine Tugend noch jungen Datums: mögen immerhin einzelne Geister früher
sie proclamirt haben, als allgemeine Tendenz der gebildeten Menschen ist die
Toleranz ein Produkt der Philosophie des vorigen Jahrhunderts.

Nach unseren modernen Anschauungen dürfen wir nicht Menschen und
Einrichtungen des 16. Jahrhunderts beurtheilen; wenigstens hat eine Ver¬
dammung, wenn sie einmal ausgesprochen werden soll, alle Seiten und alle
Parteien mit gleicher Gerechtigkeit zu treffen.


W. Maurenbrecher.


Die weißen Irüder vom KMm-Aar.
ii.

Unser Berichterstatter schreibt weiter:

Uorkville in Südcarolina, 10. November. Jeden Tag kommen neue
erschreckte und bußfertige Sünder vom Lande draußen an, einige zu Fuß,
andere zu Pferde, wieder andere in Wagen von Maulthieren gezogen, um sich
bei Major Merrill zu melden und ganz oder theilweise zu bekennen, was sie
von der Verschwörung wissen, worauf sie gewöhnlich unter dem Versprechen,
nicht davon zu laufen und sich auf Verlangen jeder Zeit wieder einzustellen,
'um die Erlaubniß bitten, nach Hause zu gehen. Die auf diese Art wieder
Freigelassenen belaufen sich auf mehr als dreihundert. Beim Abschied vom
Major oder Staatsanwalt heißt es gewöhnlich: „Sie gehen nach Hause und
bleiben dort und besorgen Ihr Geschäft, und wenn man Sie braucht, wird


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_126853/100>, abgerufen am 07.05.2024.