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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. I. Band.

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Die Kirchlichen Aufgaben der deutschen Hegenwart
von
Wilhelm Maurenbrecher.

Akademische Festrede, gehalten am 18. Januar 1872 im Namen der Albertus-
- Universität zu Königsberg.

An dem Festtage, an dem alljährlich unsere Hochschule die Gründung
unseres Königreiches in dankbarer Erinnerung zu feiern gewohnt ist, schauen
wir heute auf das erste Lebensjahr des deutschen Reiches zurück, das
auf dem Grunde des preußischen Staates vor Jahresfrist aufgerichtet ist.
Mit freudiger Befriedigung dürfen wir heute constatiren, daß in dieser kurzen
Zeitspanne der innere Ausbau unseres neuen Reiches heilvolle Fortschritte ge¬
macht hat. Nachdem gegen den äußern Feind ausreichende Sicherheit gewon¬
nen ist, nachdem in einer zunächst genügenden Weise die gegenseitigen Ver¬
hältnisse des Reichsganzen und der Einzelstaaten geordnet sind, gilt es jetzt,
unsere inneren Einrichtungen in Deutschland und in Preußen zu gesunden
Verhältnissen zu gestalten.

Die Organisation des Reiches zieht wie von selbst Reformen in den Ein¬
zelstaaten nach sich. Ueberall und an verschiedenen Punkten beginnt die Arbeit
unseres staatlichen Lebens. Freiwilliger Stillstand würde nichts weniger als
freiwilligen Tod bedeuten.

Und groß und gewaltig sind die Ausgaben, die in Preußen und im ganzen
Deutschland ihrer Lösung harren. Ungelöst schwebt über unserer Zukunft die
sociale und die kirchliche Frage: ungelöst kann und darf weder die eine
noch die andere bleiben; auch unsere Pflicht ist es, an der Lösung dieser
schwierigsten aller Probleme nach Kräften mit zu arbeiten.

In allen denjenigen Geschichtsperioden, die wir als Uebergangszeiten zu
charakterisiren gewohnt sind, beobachten wir, daß weite Kreise, große Schichten
des Volkes von Unbehagen und Unzufriedenheit mit ihrem Geschicke ergriffen
sind. Die Aenderung der allgemeinen Lebensverhältnisse hat ganz besonders
für die arbeitenden Klassen die Existenz schwieriger und härter gemacht; den
gesteigerten Ansprüchen sind die Mittel nicht mehr gewachsen; und nach einer
neuen Ordnung des Lebens ringt der schwergedrückte Arbeiter mit aller Kraft.
Wenn nun in unserer Gegenwart mit ganz besonderer Macht diese oft dage-


Grenzboten I. 1872. 31
Die Kirchlichen Aufgaben der deutschen Hegenwart
von
Wilhelm Maurenbrecher.

Akademische Festrede, gehalten am 18. Januar 1872 im Namen der Albertus-
- Universität zu Königsberg.

An dem Festtage, an dem alljährlich unsere Hochschule die Gründung
unseres Königreiches in dankbarer Erinnerung zu feiern gewohnt ist, schauen
wir heute auf das erste Lebensjahr des deutschen Reiches zurück, das
auf dem Grunde des preußischen Staates vor Jahresfrist aufgerichtet ist.
Mit freudiger Befriedigung dürfen wir heute constatiren, daß in dieser kurzen
Zeitspanne der innere Ausbau unseres neuen Reiches heilvolle Fortschritte ge¬
macht hat. Nachdem gegen den äußern Feind ausreichende Sicherheit gewon¬
nen ist, nachdem in einer zunächst genügenden Weise die gegenseitigen Ver¬
hältnisse des Reichsganzen und der Einzelstaaten geordnet sind, gilt es jetzt,
unsere inneren Einrichtungen in Deutschland und in Preußen zu gesunden
Verhältnissen zu gestalten.

Die Organisation des Reiches zieht wie von selbst Reformen in den Ein¬
zelstaaten nach sich. Ueberall und an verschiedenen Punkten beginnt die Arbeit
unseres staatlichen Lebens. Freiwilliger Stillstand würde nichts weniger als
freiwilligen Tod bedeuten.

Und groß und gewaltig sind die Ausgaben, die in Preußen und im ganzen
Deutschland ihrer Lösung harren. Ungelöst schwebt über unserer Zukunft die
sociale und die kirchliche Frage: ungelöst kann und darf weder die eine
noch die andere bleiben; auch unsere Pflicht ist es, an der Lösung dieser
schwierigsten aller Probleme nach Kräften mit zu arbeiten.

In allen denjenigen Geschichtsperioden, die wir als Uebergangszeiten zu
charakterisiren gewohnt sind, beobachten wir, daß weite Kreise, große Schichten
des Volkes von Unbehagen und Unzufriedenheit mit ihrem Geschicke ergriffen
sind. Die Aenderung der allgemeinen Lebensverhältnisse hat ganz besonders
für die arbeitenden Klassen die Existenz schwieriger und härter gemacht; den
gesteigerten Ansprüchen sind die Mittel nicht mehr gewachsen; und nach einer
neuen Ordnung des Lebens ringt der schwergedrückte Arbeiter mit aller Kraft.
Wenn nun in unserer Gegenwart mit ganz besonderer Macht diese oft dage-


Grenzboten I. 1872. 31
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[0249] Die Kirchlichen Aufgaben der deutschen Hegenwart von Wilhelm Maurenbrecher. Akademische Festrede, gehalten am 18. Januar 1872 im Namen der Albertus- - Universität zu Königsberg. An dem Festtage, an dem alljährlich unsere Hochschule die Gründung unseres Königreiches in dankbarer Erinnerung zu feiern gewohnt ist, schauen wir heute auf das erste Lebensjahr des deutschen Reiches zurück, das auf dem Grunde des preußischen Staates vor Jahresfrist aufgerichtet ist. Mit freudiger Befriedigung dürfen wir heute constatiren, daß in dieser kurzen Zeitspanne der innere Ausbau unseres neuen Reiches heilvolle Fortschritte ge¬ macht hat. Nachdem gegen den äußern Feind ausreichende Sicherheit gewon¬ nen ist, nachdem in einer zunächst genügenden Weise die gegenseitigen Ver¬ hältnisse des Reichsganzen und der Einzelstaaten geordnet sind, gilt es jetzt, unsere inneren Einrichtungen in Deutschland und in Preußen zu gesunden Verhältnissen zu gestalten. Die Organisation des Reiches zieht wie von selbst Reformen in den Ein¬ zelstaaten nach sich. Ueberall und an verschiedenen Punkten beginnt die Arbeit unseres staatlichen Lebens. Freiwilliger Stillstand würde nichts weniger als freiwilligen Tod bedeuten. Und groß und gewaltig sind die Ausgaben, die in Preußen und im ganzen Deutschland ihrer Lösung harren. Ungelöst schwebt über unserer Zukunft die sociale und die kirchliche Frage: ungelöst kann und darf weder die eine noch die andere bleiben; auch unsere Pflicht ist es, an der Lösung dieser schwierigsten aller Probleme nach Kräften mit zu arbeiten. In allen denjenigen Geschichtsperioden, die wir als Uebergangszeiten zu charakterisiren gewohnt sind, beobachten wir, daß weite Kreise, große Schichten des Volkes von Unbehagen und Unzufriedenheit mit ihrem Geschicke ergriffen sind. Die Aenderung der allgemeinen Lebensverhältnisse hat ganz besonders für die arbeitenden Klassen die Existenz schwieriger und härter gemacht; den gesteigerten Ansprüchen sind die Mittel nicht mehr gewachsen; und nach einer neuen Ordnung des Lebens ringt der schwergedrückte Arbeiter mit aller Kraft. Wenn nun in unserer Gegenwart mit ganz besonderer Macht diese oft dage- Grenzboten I. 1872. 31

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_126853/249>, abgerufen am 07.05.2024.