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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. I. Band.

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Zum neuen Jahr.

^Dem Auge künftiger Geschlechter werden die Jahre und Jahrzehnte, in
welchen das deutsche Reich im Herzen von Europa zu kaum geahnter Herrlich¬
keit erwuchs und emporblühte, erscheinen wie wenige Tage in der gesammten Ge¬
schichte der Menschheit. Wir aber stehen gehobenen Herzens mitteninne in diesen
Jahren des Aufganges unseres Volkes; Tag für Tag, Monat für Monat
mehrt vor unseren Augen den Ruhm und die Kraft, das Ansehen, die Cultur
und die Freiheit der deutschen Nation. Hätten wir nicht Alles, was wir sind und
besitzen, und erreichbar vor uns ausgebreitet finden in den Tagen der Zukunft
im Schweiße unseres Angesichts und mit dem Blute unserer Brüder und
Kinder theuer erkauft, es könnte uns grauen vor dem Neide der Götter.
Denn die Gegenwart wirft uns scheinbar ebenso mühelos eine reiche Fülle
der Gaben in den Schooß, die ein großes Volk stolz und glücklich machen,
als die Vergangenheit der zähesten Arbeit und den bescheidensten Hoffnungen
unserer Väter Erfolg und Erfüllung versagte. Vierzehn Jahre erst sind ver¬
gangen, seit der bedeutendste Kenner der Geschichte und Literatur der Staats¬
wissenschaften aller Völker, Robert von Mohl, in der Einleitung zum Fran¬
zösischen Staatsrecht die festgefügten Verfassungen der Schweiz, Nordamerika's,
Englands, eine jede unter rühmlicher Erwähnung ihrer eigenartigen Vorzüge,
und die Verfassung Frankreichs, "diese bis zu den äußersten Grenzen der
Zweckmäßigkeit, und vielleicht noch über diese hinaus getriebene Zusammen¬
fassung der öffentlichen Gewalt im Mittelpunkte des Reiches" in Vergleichung
stellte mit dem "Rechte Deutschlands, jenem Ergebniß der traurigen, immer
weiter gehenden Zersetzung einer großen ursprünglichen Einheit in eine Ueber¬
zahl von einzelnen Bestandtheilen, wodurch freilich den Bedürfnissen und Launen
der Oertlichkeiten und Personen immer mehr Rechnung getragen und voll¬
ständigere Ausbildung gewährt worden ist, die Macht aber und der Rechts^
schütz des Ganzen verloren gingen."

Welches Gegenbild bieten unsere Tage! Wie viele jener Vorzüge, welche
Mohl nacheinander den Verfassungen fremder Völker nachzurühmen hatte,
finden sich heute nicht in dem Staatsgrundgesetz des deutschen Reichs, "dem
Rechte Deutschlands" vereinigt. Fast scheint es, als hätten wir alle Grund-
züge und Lichtseiten der erprobten Verfassungen anderer Völker in unser


Grenzboten i. 1872. i
Zum neuen Jahr.

^Dem Auge künftiger Geschlechter werden die Jahre und Jahrzehnte, in
welchen das deutsche Reich im Herzen von Europa zu kaum geahnter Herrlich¬
keit erwuchs und emporblühte, erscheinen wie wenige Tage in der gesammten Ge¬
schichte der Menschheit. Wir aber stehen gehobenen Herzens mitteninne in diesen
Jahren des Aufganges unseres Volkes; Tag für Tag, Monat für Monat
mehrt vor unseren Augen den Ruhm und die Kraft, das Ansehen, die Cultur
und die Freiheit der deutschen Nation. Hätten wir nicht Alles, was wir sind und
besitzen, und erreichbar vor uns ausgebreitet finden in den Tagen der Zukunft
im Schweiße unseres Angesichts und mit dem Blute unserer Brüder und
Kinder theuer erkauft, es könnte uns grauen vor dem Neide der Götter.
Denn die Gegenwart wirft uns scheinbar ebenso mühelos eine reiche Fülle
der Gaben in den Schooß, die ein großes Volk stolz und glücklich machen,
als die Vergangenheit der zähesten Arbeit und den bescheidensten Hoffnungen
unserer Väter Erfolg und Erfüllung versagte. Vierzehn Jahre erst sind ver¬
gangen, seit der bedeutendste Kenner der Geschichte und Literatur der Staats¬
wissenschaften aller Völker, Robert von Mohl, in der Einleitung zum Fran¬
zösischen Staatsrecht die festgefügten Verfassungen der Schweiz, Nordamerika's,
Englands, eine jede unter rühmlicher Erwähnung ihrer eigenartigen Vorzüge,
und die Verfassung Frankreichs, „diese bis zu den äußersten Grenzen der
Zweckmäßigkeit, und vielleicht noch über diese hinaus getriebene Zusammen¬
fassung der öffentlichen Gewalt im Mittelpunkte des Reiches" in Vergleichung
stellte mit dem „Rechte Deutschlands, jenem Ergebniß der traurigen, immer
weiter gehenden Zersetzung einer großen ursprünglichen Einheit in eine Ueber¬
zahl von einzelnen Bestandtheilen, wodurch freilich den Bedürfnissen und Launen
der Oertlichkeiten und Personen immer mehr Rechnung getragen und voll¬
ständigere Ausbildung gewährt worden ist, die Macht aber und der Rechts^
schütz des Ganzen verloren gingen."

Welches Gegenbild bieten unsere Tage! Wie viele jener Vorzüge, welche
Mohl nacheinander den Verfassungen fremder Völker nachzurühmen hatte,
finden sich heute nicht in dem Staatsgrundgesetz des deutschen Reichs, „dem
Rechte Deutschlands" vereinigt. Fast scheint es, als hätten wir alle Grund-
züge und Lichtseiten der erprobten Verfassungen anderer Völker in unser


Grenzboten i. 1872. i
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[0009] Zum neuen Jahr. ^Dem Auge künftiger Geschlechter werden die Jahre und Jahrzehnte, in welchen das deutsche Reich im Herzen von Europa zu kaum geahnter Herrlich¬ keit erwuchs und emporblühte, erscheinen wie wenige Tage in der gesammten Ge¬ schichte der Menschheit. Wir aber stehen gehobenen Herzens mitteninne in diesen Jahren des Aufganges unseres Volkes; Tag für Tag, Monat für Monat mehrt vor unseren Augen den Ruhm und die Kraft, das Ansehen, die Cultur und die Freiheit der deutschen Nation. Hätten wir nicht Alles, was wir sind und besitzen, und erreichbar vor uns ausgebreitet finden in den Tagen der Zukunft im Schweiße unseres Angesichts und mit dem Blute unserer Brüder und Kinder theuer erkauft, es könnte uns grauen vor dem Neide der Götter. Denn die Gegenwart wirft uns scheinbar ebenso mühelos eine reiche Fülle der Gaben in den Schooß, die ein großes Volk stolz und glücklich machen, als die Vergangenheit der zähesten Arbeit und den bescheidensten Hoffnungen unserer Väter Erfolg und Erfüllung versagte. Vierzehn Jahre erst sind ver¬ gangen, seit der bedeutendste Kenner der Geschichte und Literatur der Staats¬ wissenschaften aller Völker, Robert von Mohl, in der Einleitung zum Fran¬ zösischen Staatsrecht die festgefügten Verfassungen der Schweiz, Nordamerika's, Englands, eine jede unter rühmlicher Erwähnung ihrer eigenartigen Vorzüge, und die Verfassung Frankreichs, „diese bis zu den äußersten Grenzen der Zweckmäßigkeit, und vielleicht noch über diese hinaus getriebene Zusammen¬ fassung der öffentlichen Gewalt im Mittelpunkte des Reiches" in Vergleichung stellte mit dem „Rechte Deutschlands, jenem Ergebniß der traurigen, immer weiter gehenden Zersetzung einer großen ursprünglichen Einheit in eine Ueber¬ zahl von einzelnen Bestandtheilen, wodurch freilich den Bedürfnissen und Launen der Oertlichkeiten und Personen immer mehr Rechnung getragen und voll¬ ständigere Ausbildung gewährt worden ist, die Macht aber und der Rechts^ schütz des Ganzen verloren gingen." Welches Gegenbild bieten unsere Tage! Wie viele jener Vorzüge, welche Mohl nacheinander den Verfassungen fremder Völker nachzurühmen hatte, finden sich heute nicht in dem Staatsgrundgesetz des deutschen Reichs, „dem Rechte Deutschlands" vereinigt. Fast scheint es, als hätten wir alle Grund- züge und Lichtseiten der erprobten Verfassungen anderer Völker in unser Grenzboten i. 1872. i

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_126853/9>, abgerufen am 08.05.2024.