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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

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des festländischen konstitutionellen Staatsrechts gemacht worden. Daß der
höchste Staatsgerichtshof Englands, nachdem er das Unterhaus als steuerbe¬
willigenden Körper von sich ausgeschieden, dieselben Formen annahm, die mit
der Zeit für das Unterhaus zweckmäßig und gebräuchlich wurden, ist ein eng¬
lischer Bock, der den Engländern die Gewähr ihrer Verfassung schon seit lange
zu gefährden angefangen. Das Festland hat aus diesem Bock ein Dogma
gemacht, dessen verderbliche Folgen überall zu Tage liegen, und das gleich¬
wohl noch so unerschüttert ist, daß es in einem jüngsten staatsrechtlichen
Werke als die eowmmüs opinio der gebildeten Völker bezeichnet werden konnte.
Möge denn der leitende deutsche Staat durch seinen leitenden Mann endlich
die fallende Hand an diesen schädlichen Aberglauben legen!


C -- r.


Weihmchtsbücherschau.

Vor etwa einem Jahre tauchten zum ersten Mal an den Schaufenstern
unsrer Buch- und Kunsthändler einzelne Blätter eines Werkes auf, welche
sich für nichts weiter ausgaben als für "Blätter aus dem Skizzenbuche" eines
bis dahin für die Meisten namenlosen Künstlers. Wenn der Besitzer der
Buch- oder Kunstanstalt mehr sentimental angeflogen oder "stilvoll" gebildet
war, so wählte er aus dem Skizzenbuch etwa Blätter wie "Hessischer Mädchen¬
kopf", die "Poesie", "Mädchen, Tauben fütternd", "Kranker Mann am Altar"
oder "Trauerndes Mädchen" u. s. w. War der Inhaber der Kunstbude da¬
gegen fröhlicher angelegt, so hing er aus demselben "Skizzenbuche" Blätter
aus, so voller Lust, Poesie und Humor, daß die Weisen und die Thoren noch
tausend Schritt, nachdem sie seinen Laden passirt hatten, die Lippen nicht
zusammenbrachten. In andern Fällen hatte das Publikum, dessen Neugier
auf so exorbitante Weise herausgefordert war, wenigstens unter den Neclamen
und Inseraten die Lösung aller derartiger Räthsel gefunden! Ja, unter
dem Strich der Zeitungen waren sogar Menschenfreunde bisher dafür besorgt
gewesen, dem Leser alle möglichen begehrenswerther Dinge nach den innern
und äußern Eigenschaften, bis auf die freventlich nachgeahmte Etikettirung
und Verpackung lange vor der Zeit zu schildern, wo der Leser den wünschens-
werthen Gegenstand zum ersten Mal zu Gesicht bekam. Und hier so ganz
das Gegentheil im Verfahren. Keine Annonce, keine Reclame, keine Auf¬
klärung. Nichts als die sprechenden, packenden Bilder selbst ließen Künstler
und Verleger zum Publikum reden. Dieses Verfahren war originell, einige fanden
es auch rücksichtslos, abscheulich! Aber auch das schadete dem Werke nichts. Der
Kreis vor den Schaufenstern, in denen das Skizzenbuch auflag. wurde deßhalb


des festländischen konstitutionellen Staatsrechts gemacht worden. Daß der
höchste Staatsgerichtshof Englands, nachdem er das Unterhaus als steuerbe¬
willigenden Körper von sich ausgeschieden, dieselben Formen annahm, die mit
der Zeit für das Unterhaus zweckmäßig und gebräuchlich wurden, ist ein eng¬
lischer Bock, der den Engländern die Gewähr ihrer Verfassung schon seit lange
zu gefährden angefangen. Das Festland hat aus diesem Bock ein Dogma
gemacht, dessen verderbliche Folgen überall zu Tage liegen, und das gleich¬
wohl noch so unerschüttert ist, daß es in einem jüngsten staatsrechtlichen
Werke als die eowmmüs opinio der gebildeten Völker bezeichnet werden konnte.
Möge denn der leitende deutsche Staat durch seinen leitenden Mann endlich
die fallende Hand an diesen schädlichen Aberglauben legen!


C — r.


Weihmchtsbücherschau.

Vor etwa einem Jahre tauchten zum ersten Mal an den Schaufenstern
unsrer Buch- und Kunsthändler einzelne Blätter eines Werkes auf, welche
sich für nichts weiter ausgaben als für „Blätter aus dem Skizzenbuche" eines
bis dahin für die Meisten namenlosen Künstlers. Wenn der Besitzer der
Buch- oder Kunstanstalt mehr sentimental angeflogen oder „stilvoll" gebildet
war, so wählte er aus dem Skizzenbuch etwa Blätter wie „Hessischer Mädchen¬
kopf", die „Poesie", „Mädchen, Tauben fütternd", „Kranker Mann am Altar"
oder „Trauerndes Mädchen" u. s. w. War der Inhaber der Kunstbude da¬
gegen fröhlicher angelegt, so hing er aus demselben „Skizzenbuche" Blätter
aus, so voller Lust, Poesie und Humor, daß die Weisen und die Thoren noch
tausend Schritt, nachdem sie seinen Laden passirt hatten, die Lippen nicht
zusammenbrachten. In andern Fällen hatte das Publikum, dessen Neugier
auf so exorbitante Weise herausgefordert war, wenigstens unter den Neclamen
und Inseraten die Lösung aller derartiger Räthsel gefunden! Ja, unter
dem Strich der Zeitungen waren sogar Menschenfreunde bisher dafür besorgt
gewesen, dem Leser alle möglichen begehrenswerther Dinge nach den innern
und äußern Eigenschaften, bis auf die freventlich nachgeahmte Etikettirung
und Verpackung lange vor der Zeit zu schildern, wo der Leser den wünschens-
werthen Gegenstand zum ersten Mal zu Gesicht bekam. Und hier so ganz
das Gegentheil im Verfahren. Keine Annonce, keine Reclame, keine Auf¬
klärung. Nichts als die sprechenden, packenden Bilder selbst ließen Künstler
und Verleger zum Publikum reden. Dieses Verfahren war originell, einige fanden
es auch rücksichtslos, abscheulich! Aber auch das schadete dem Werke nichts. Der
Kreis vor den Schaufenstern, in denen das Skizzenbuch auflag. wurde deßhalb


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[0362] des festländischen konstitutionellen Staatsrechts gemacht worden. Daß der höchste Staatsgerichtshof Englands, nachdem er das Unterhaus als steuerbe¬ willigenden Körper von sich ausgeschieden, dieselben Formen annahm, die mit der Zeit für das Unterhaus zweckmäßig und gebräuchlich wurden, ist ein eng¬ lischer Bock, der den Engländern die Gewähr ihrer Verfassung schon seit lange zu gefährden angefangen. Das Festland hat aus diesem Bock ein Dogma gemacht, dessen verderbliche Folgen überall zu Tage liegen, und das gleich¬ wohl noch so unerschüttert ist, daß es in einem jüngsten staatsrechtlichen Werke als die eowmmüs opinio der gebildeten Völker bezeichnet werden konnte. Möge denn der leitende deutsche Staat durch seinen leitenden Mann endlich die fallende Hand an diesen schädlichen Aberglauben legen! C — r. Weihmchtsbücherschau. Vor etwa einem Jahre tauchten zum ersten Mal an den Schaufenstern unsrer Buch- und Kunsthändler einzelne Blätter eines Werkes auf, welche sich für nichts weiter ausgaben als für „Blätter aus dem Skizzenbuche" eines bis dahin für die Meisten namenlosen Künstlers. Wenn der Besitzer der Buch- oder Kunstanstalt mehr sentimental angeflogen oder „stilvoll" gebildet war, so wählte er aus dem Skizzenbuch etwa Blätter wie „Hessischer Mädchen¬ kopf", die „Poesie", „Mädchen, Tauben fütternd", „Kranker Mann am Altar" oder „Trauerndes Mädchen" u. s. w. War der Inhaber der Kunstbude da¬ gegen fröhlicher angelegt, so hing er aus demselben „Skizzenbuche" Blätter aus, so voller Lust, Poesie und Humor, daß die Weisen und die Thoren noch tausend Schritt, nachdem sie seinen Laden passirt hatten, die Lippen nicht zusammenbrachten. In andern Fällen hatte das Publikum, dessen Neugier auf so exorbitante Weise herausgefordert war, wenigstens unter den Neclamen und Inseraten die Lösung aller derartiger Räthsel gefunden! Ja, unter dem Strich der Zeitungen waren sogar Menschenfreunde bisher dafür besorgt gewesen, dem Leser alle möglichen begehrenswerther Dinge nach den innern und äußern Eigenschaften, bis auf die freventlich nachgeahmte Etikettirung und Verpackung lange vor der Zeit zu schildern, wo der Leser den wünschens- werthen Gegenstand zum ersten Mal zu Gesicht bekam. Und hier so ganz das Gegentheil im Verfahren. Keine Annonce, keine Reclame, keine Auf¬ klärung. Nichts als die sprechenden, packenden Bilder selbst ließen Künstler und Verleger zum Publikum reden. Dieses Verfahren war originell, einige fanden es auch rücksichtslos, abscheulich! Aber auch das schadete dem Werke nichts. Der Kreis vor den Schaufenstern, in denen das Skizzenbuch auflag. wurde deßhalb

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/362>, abgerufen am 05.05.2024.