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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.

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An Separatvotum zu SljaKspeare's "WM".

Ist auch kaum eine Gestalt der tragischen Muse unserer Phantasie ver¬
trauter, als der Mohr von Venedig oder Desdemona, so hat sich doch diesem
Trauerspiel gegenüber in neuester Zeit eine merkliche Ungunst der öffentlichen
Meinung offenbart. Diese auffallende Erscheinung mag theilweise damit er¬
klärt werden, daß unsere weichere Art es nicht mehr erträgt, ein zartes, un¬
schuldiges Weib von einem starken Mann hinwürgen zu sehen. Es fragt sich
aber, ob der Eindruck nicht ein anderer wäre, milder und tragisch versöhn¬
licher, wenn ihn die Aesthetik unserer Dramaturgen, das Verständniß der
Gebildeten und die Kunst der Bühne endlich einmal im Sinne der Dichtung
berichtigten.

Diese drei Factoren stehen zu einander in Wechselwirkung, wenn auch
der erste bei weitem als der mächtigste erscheint. Das Verständniß des be-
strittensten aller Dramen z. B., des "Hamlet", danken wir Goethe, und viel¬
leicht nach ihm hauptsächlich der genialen Darstellung Eduard Devrient's. --
Nun ist zwar "Othello" kein solcher Tummelplatz ästhetischer Controversen
wie "Hamlet"; allein die richtige Auffassung des Dramas scheint uns darum
doch keineswegs sicher festgestellt. Wollten wir aber den Kern der verbreitet-
sten Ansicht herausschälen, so dürfte es dieser sein: "Shakspeare hat den
Othello geschrieben, um die Eifersucht zu malen; und um sie in ihrer
ganzen Entsetzlichkeit darzustellen, zeigt er sie uns an einem heißblütigen
Schwarzen. Desdemona ist dieses grauenhaften Haustyrannen mehr oder
weniger schuldloses Opfer. Alle Ehemänner und Solche, die es werden wollen
mögen sich daran ein "abscheuliches Exempel" nehmen!"

Dem gegenüber hat nun Gervinus, und mit größerem Nachdruck Ulrici,
dargethan, daß Othello's Charakter an sich sehr wenig zur Eifersucht neigt.
Und auch darüber sind wir bereits aufgeklärt, daß bei den Mohren oder
Mauren die Nasse nicht unkünstlerisch und in einer Weise, welche die
tragische Schuld fast aufheben würde, betont werden darf. Der "Mohr" ist
kein halbcivilistrter Wilder, kein Neger mit grausamen Instinkten, den eigent¬
lich nur wieder ein Neger wie Im Aldridge mit tobsüchtigen Verzerrungen
tragiren könnte. Ein so echter Dichter wie Shakspeare konnte niemals das
Menschliche durch die Rasse zu unzurechnungsfähiger "Bestialität" verkümmern


Grenzboten III. 1873. 16
An Separatvotum zu SljaKspeare's „WM".

Ist auch kaum eine Gestalt der tragischen Muse unserer Phantasie ver¬
trauter, als der Mohr von Venedig oder Desdemona, so hat sich doch diesem
Trauerspiel gegenüber in neuester Zeit eine merkliche Ungunst der öffentlichen
Meinung offenbart. Diese auffallende Erscheinung mag theilweise damit er¬
klärt werden, daß unsere weichere Art es nicht mehr erträgt, ein zartes, un¬
schuldiges Weib von einem starken Mann hinwürgen zu sehen. Es fragt sich
aber, ob der Eindruck nicht ein anderer wäre, milder und tragisch versöhn¬
licher, wenn ihn die Aesthetik unserer Dramaturgen, das Verständniß der
Gebildeten und die Kunst der Bühne endlich einmal im Sinne der Dichtung
berichtigten.

Diese drei Factoren stehen zu einander in Wechselwirkung, wenn auch
der erste bei weitem als der mächtigste erscheint. Das Verständniß des be-
strittensten aller Dramen z. B., des „Hamlet", danken wir Goethe, und viel¬
leicht nach ihm hauptsächlich der genialen Darstellung Eduard Devrient's. —
Nun ist zwar „Othello" kein solcher Tummelplatz ästhetischer Controversen
wie „Hamlet"; allein die richtige Auffassung des Dramas scheint uns darum
doch keineswegs sicher festgestellt. Wollten wir aber den Kern der verbreitet-
sten Ansicht herausschälen, so dürfte es dieser sein: „Shakspeare hat den
Othello geschrieben, um die Eifersucht zu malen; und um sie in ihrer
ganzen Entsetzlichkeit darzustellen, zeigt er sie uns an einem heißblütigen
Schwarzen. Desdemona ist dieses grauenhaften Haustyrannen mehr oder
weniger schuldloses Opfer. Alle Ehemänner und Solche, die es werden wollen
mögen sich daran ein „abscheuliches Exempel" nehmen!"

Dem gegenüber hat nun Gervinus, und mit größerem Nachdruck Ulrici,
dargethan, daß Othello's Charakter an sich sehr wenig zur Eifersucht neigt.
Und auch darüber sind wir bereits aufgeklärt, daß bei den Mohren oder
Mauren die Nasse nicht unkünstlerisch und in einer Weise, welche die
tragische Schuld fast aufheben würde, betont werden darf. Der „Mohr" ist
kein halbcivilistrter Wilder, kein Neger mit grausamen Instinkten, den eigent¬
lich nur wieder ein Neger wie Im Aldridge mit tobsüchtigen Verzerrungen
tragiren könnte. Ein so echter Dichter wie Shakspeare konnte niemals das
Menschliche durch die Rasse zu unzurechnungsfähiger „Bestialität" verkümmern


Grenzboten III. 1873. 16
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[0129] An Separatvotum zu SljaKspeare's „WM". Ist auch kaum eine Gestalt der tragischen Muse unserer Phantasie ver¬ trauter, als der Mohr von Venedig oder Desdemona, so hat sich doch diesem Trauerspiel gegenüber in neuester Zeit eine merkliche Ungunst der öffentlichen Meinung offenbart. Diese auffallende Erscheinung mag theilweise damit er¬ klärt werden, daß unsere weichere Art es nicht mehr erträgt, ein zartes, un¬ schuldiges Weib von einem starken Mann hinwürgen zu sehen. Es fragt sich aber, ob der Eindruck nicht ein anderer wäre, milder und tragisch versöhn¬ licher, wenn ihn die Aesthetik unserer Dramaturgen, das Verständniß der Gebildeten und die Kunst der Bühne endlich einmal im Sinne der Dichtung berichtigten. Diese drei Factoren stehen zu einander in Wechselwirkung, wenn auch der erste bei weitem als der mächtigste erscheint. Das Verständniß des be- strittensten aller Dramen z. B., des „Hamlet", danken wir Goethe, und viel¬ leicht nach ihm hauptsächlich der genialen Darstellung Eduard Devrient's. — Nun ist zwar „Othello" kein solcher Tummelplatz ästhetischer Controversen wie „Hamlet"; allein die richtige Auffassung des Dramas scheint uns darum doch keineswegs sicher festgestellt. Wollten wir aber den Kern der verbreitet- sten Ansicht herausschälen, so dürfte es dieser sein: „Shakspeare hat den Othello geschrieben, um die Eifersucht zu malen; und um sie in ihrer ganzen Entsetzlichkeit darzustellen, zeigt er sie uns an einem heißblütigen Schwarzen. Desdemona ist dieses grauenhaften Haustyrannen mehr oder weniger schuldloses Opfer. Alle Ehemänner und Solche, die es werden wollen mögen sich daran ein „abscheuliches Exempel" nehmen!" Dem gegenüber hat nun Gervinus, und mit größerem Nachdruck Ulrici, dargethan, daß Othello's Charakter an sich sehr wenig zur Eifersucht neigt. Und auch darüber sind wir bereits aufgeklärt, daß bei den Mohren oder Mauren die Nasse nicht unkünstlerisch und in einer Weise, welche die tragische Schuld fast aufheben würde, betont werden darf. Der „Mohr" ist kein halbcivilistrter Wilder, kein Neger mit grausamen Instinkten, den eigent¬ lich nur wieder ein Neger wie Im Aldridge mit tobsüchtigen Verzerrungen tragiren könnte. Ein so echter Dichter wie Shakspeare konnte niemals das Menschliche durch die Rasse zu unzurechnungsfähiger „Bestialität" verkümmern Grenzboten III. 1873. 16

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/129>, abgerufen am 03.05.2024.