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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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dem Generalintendanten einer Reihe von Theatern, welche die königliche Unter¬
stützung genießen, damit sie, ungestört durch die Rücksicht auf Gewinn, allein
der Pflege der Kunst gewidmet seien und dadurch der Nation zu heilbringen¬
den Bildungsstätten würden, ist sie uns unbegreiflich. Wir dächten doch,
nicht nur die Bewohner Berlins, sondern die kunstliebenden Kreise des ganzen
deutschen Volkes hätten einiges Interesse daran, zu erfahren, in welcher Weise
auf den ersten Bühnen des Reichs den Musen gedient wird. Diesem allge¬
meinen Interesse der Nation, nicht dem specifischen Interesse der Herrn von
Hülsen unterstellten Institute, zu dienen, ist die Pflicht der Kritik, und wir
denken dieser Pflicht zu genügen, auch ohne das Freibillet.

Als besonders theatralisches Ereigniß sind noch die am 1. Januar be¬
gonnenen Vorstellungen der von M. Luguet geleiteten französischen Gesell¬
schaft zu erwähnen. So ziemlich die gesammte Berliner Presse beliebte, die
Bedürfnißfrage derartiger Vorstellungen zu erörtern, verneinte dieselbe und
erging sich dabei in gelinder teutonischer Entrüstung. Wozu das? Ein Be¬
dürfniß sind sie allerdings nicht, am allerwenigsten ein civilisatorisches; sie
sind uns einfach ein Luxusgegenstand, wie andere Pariser Artikel. Und wenn,
wie Manche besorgen, die Franzosen sich dennoch einbilden, daß ihre Komö¬
dien uns das unentbehrliche Lebensbrod seien, was geht das uns an? Wir
haben doch wahrlich nicht gegen unsere Nachbarn die Pflichten des Irren¬
arztes zu üben. Und will man uns etwa aus bloßer Deutschthümelei an-
rathen, auf die Pariser Artikel zu verzichten? Wenn die Franzosen aus
nationalem Chauvinismus von der internationalen Arbeitstheilung nichts mehr
wissen wollen, sollen wir ihnen etwa diese Thorheit nachahmen. Nein, als
Sieger haben wir doch das Recht, verständiger zu sein. Die Franzosen sind
nun einmal geborene Komödianten und wir Deutsche sind's nicht. Warum
also sollten wir uns nicht ein französisches Theater erlauben? -- Dies über
die Prinzipienfrage; über die Leistungen der Gesellschaft Luguet ein ander Mal.


X- X-


Kleine Besprechungen.
Zur Textkritik von Goethe's Werken.*)

Wenn man auch im Allgemeinen weiß, was seit dem Fall der Privi¬
legien auf die Ausgaben unserer Klassiker in wissenschaftlicher Beziehung ge¬
leistet worden ist und sich dies nach allen Richtungen hin in den Hempel-
schen Ausgaben documentirt, so tritt dieses, was die Text-Kritik an¬
langt, einem größern Leserkreise nicht in so scharfes Licht, als wenn, wie es



') Berlin, 1873, Gustav Hempel.

dem Generalintendanten einer Reihe von Theatern, welche die königliche Unter¬
stützung genießen, damit sie, ungestört durch die Rücksicht auf Gewinn, allein
der Pflege der Kunst gewidmet seien und dadurch der Nation zu heilbringen¬
den Bildungsstätten würden, ist sie uns unbegreiflich. Wir dächten doch,
nicht nur die Bewohner Berlins, sondern die kunstliebenden Kreise des ganzen
deutschen Volkes hätten einiges Interesse daran, zu erfahren, in welcher Weise
auf den ersten Bühnen des Reichs den Musen gedient wird. Diesem allge¬
meinen Interesse der Nation, nicht dem specifischen Interesse der Herrn von
Hülsen unterstellten Institute, zu dienen, ist die Pflicht der Kritik, und wir
denken dieser Pflicht zu genügen, auch ohne das Freibillet.

Als besonders theatralisches Ereigniß sind noch die am 1. Januar be¬
gonnenen Vorstellungen der von M. Luguet geleiteten französischen Gesell¬
schaft zu erwähnen. So ziemlich die gesammte Berliner Presse beliebte, die
Bedürfnißfrage derartiger Vorstellungen zu erörtern, verneinte dieselbe und
erging sich dabei in gelinder teutonischer Entrüstung. Wozu das? Ein Be¬
dürfniß sind sie allerdings nicht, am allerwenigsten ein civilisatorisches; sie
sind uns einfach ein Luxusgegenstand, wie andere Pariser Artikel. Und wenn,
wie Manche besorgen, die Franzosen sich dennoch einbilden, daß ihre Komö¬
dien uns das unentbehrliche Lebensbrod seien, was geht das uns an? Wir
haben doch wahrlich nicht gegen unsere Nachbarn die Pflichten des Irren¬
arztes zu üben. Und will man uns etwa aus bloßer Deutschthümelei an-
rathen, auf die Pariser Artikel zu verzichten? Wenn die Franzosen aus
nationalem Chauvinismus von der internationalen Arbeitstheilung nichts mehr
wissen wollen, sollen wir ihnen etwa diese Thorheit nachahmen. Nein, als
Sieger haben wir doch das Recht, verständiger zu sein. Die Franzosen sind
nun einmal geborene Komödianten und wir Deutsche sind's nicht. Warum
also sollten wir uns nicht ein französisches Theater erlauben? — Dies über
die Prinzipienfrage; über die Leistungen der Gesellschaft Luguet ein ander Mal.


X- X-


Kleine Besprechungen.
Zur Textkritik von Goethe's Werken.*)

Wenn man auch im Allgemeinen weiß, was seit dem Fall der Privi¬
legien auf die Ausgaben unserer Klassiker in wissenschaftlicher Beziehung ge¬
leistet worden ist und sich dies nach allen Richtungen hin in den Hempel-
schen Ausgaben documentirt, so tritt dieses, was die Text-Kritik an¬
langt, einem größern Leserkreise nicht in so scharfes Licht, als wenn, wie es



') Berlin, 1873, Gustav Hempel.
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[0125] dem Generalintendanten einer Reihe von Theatern, welche die königliche Unter¬ stützung genießen, damit sie, ungestört durch die Rücksicht auf Gewinn, allein der Pflege der Kunst gewidmet seien und dadurch der Nation zu heilbringen¬ den Bildungsstätten würden, ist sie uns unbegreiflich. Wir dächten doch, nicht nur die Bewohner Berlins, sondern die kunstliebenden Kreise des ganzen deutschen Volkes hätten einiges Interesse daran, zu erfahren, in welcher Weise auf den ersten Bühnen des Reichs den Musen gedient wird. Diesem allge¬ meinen Interesse der Nation, nicht dem specifischen Interesse der Herrn von Hülsen unterstellten Institute, zu dienen, ist die Pflicht der Kritik, und wir denken dieser Pflicht zu genügen, auch ohne das Freibillet. Als besonders theatralisches Ereigniß sind noch die am 1. Januar be¬ gonnenen Vorstellungen der von M. Luguet geleiteten französischen Gesell¬ schaft zu erwähnen. So ziemlich die gesammte Berliner Presse beliebte, die Bedürfnißfrage derartiger Vorstellungen zu erörtern, verneinte dieselbe und erging sich dabei in gelinder teutonischer Entrüstung. Wozu das? Ein Be¬ dürfniß sind sie allerdings nicht, am allerwenigsten ein civilisatorisches; sie sind uns einfach ein Luxusgegenstand, wie andere Pariser Artikel. Und wenn, wie Manche besorgen, die Franzosen sich dennoch einbilden, daß ihre Komö¬ dien uns das unentbehrliche Lebensbrod seien, was geht das uns an? Wir haben doch wahrlich nicht gegen unsere Nachbarn die Pflichten des Irren¬ arztes zu üben. Und will man uns etwa aus bloßer Deutschthümelei an- rathen, auf die Pariser Artikel zu verzichten? Wenn die Franzosen aus nationalem Chauvinismus von der internationalen Arbeitstheilung nichts mehr wissen wollen, sollen wir ihnen etwa diese Thorheit nachahmen. Nein, als Sieger haben wir doch das Recht, verständiger zu sein. Die Franzosen sind nun einmal geborene Komödianten und wir Deutsche sind's nicht. Warum also sollten wir uns nicht ein französisches Theater erlauben? — Dies über die Prinzipienfrage; über die Leistungen der Gesellschaft Luguet ein ander Mal. X- X- Kleine Besprechungen. Zur Textkritik von Goethe's Werken.*) Wenn man auch im Allgemeinen weiß, was seit dem Fall der Privi¬ legien auf die Ausgaben unserer Klassiker in wissenschaftlicher Beziehung ge¬ leistet worden ist und sich dies nach allen Richtungen hin in den Hempel- schen Ausgaben documentirt, so tritt dieses, was die Text-Kritik an¬ langt, einem größern Leserkreise nicht in so scharfes Licht, als wenn, wie es ') Berlin, 1873, Gustav Hempel.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/125>, abgerufen am 28.04.2024.