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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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Dom preußischen Landtag.

Am 12. Januar haben die Sitzungen des Abgeordnetenhauses wieder
begonnen. Zwei Tage vorher hatten die Reichstagswahlen stattgefunden.
Die Beleuchtung der diesmaligen Wahlerscheinungen wäre ein interessantes
Thema, das aber einer anderen Gelegenheit vorbehalten werden muß. Wäh¬
rend den Landtag noch die wichtigsten Aufgaben beschäftigen, kann die öffent¬
liche Aufmerksamkeit nicht umhin, sich schon dem Reichstag zuzuwenden. Das
ist ein Uebelstand unseres deutschen Staatslebens, dem für jetzt nicht abzu¬
helfen ist, für den aber die Abhülfe einmal wird gefunden werden müssen.
Die Sitzung des Abgeordnetenhauses am 12. Januar begann mit ersten Be¬
rathungen, von denen zwei mit Ueberweisung der betreffenden Vorlagen an
besondere Commissionen endigten. Es war ein Gesetzentwurf über die Bethei¬
ligung des Staats an einer Berlin durchschneidenden Eisenbahn, und der
Entwurf einer neuen Vormundschaftsordnung. Ueber den Entwurf eines
Ftschereigesetzes wurde die Einzelberathung im Plenum beschlossen. In der
Sitzung am 13. Januar standen die Ausgaben des Justizministerium als
Theil des Staatshaushalts zur Einzelberathung. Dabei entspann sich eine
Erörterung, die wir nicht anders als abgeschmackt nennen können, über die
Zweckmäßigkeit, an den höchsten Gerichten Obertribunal und Oberappellations¬
gericht für die neuen Provinzen -- eine beschränkte Zahl der Lehrer der Rechts¬
wissenschaft -- es handelt sich um vier Stellen -- unter Beibehaltung des
akademischen Amtes anzustellen. Die unglaublichsten Dinge wurden vorge¬
bracht: der Professor sei seiner Natur nach einseitig, der Richter müsse all¬
seitig sein; der Richter praktisch, der Professor theoretisch; man dürfe auch
einen Professor der Medizin nicht ans Krankenbett rufen; der Spruch: liat
Mstitig., perea-t munäus, sei eine Professorate Erfindung, und was des stau-
venswerthesten Unsinns mehr ist. Herr Windthorst hielt die Professoren als
Richter höchstens in den untersten Instanzen für brauchbar. Wir verschwei¬
gen nicht, daß auch verständige Worte der Entgegnung laut wurden, und
zwar nicht bloß von Seiten des pro äomo, aber sehr mit Recht pro äomo
sprechenden Professor Gneist. Die Nichterstellen für Professoren wurden
schließlich durch Streichung der dazu ausgesetzten Besoldungen auf zwei be¬
schränkt. Die Sache ist praktisch ohne alle und jede Erheblichkeit. Gleichwohl
bietet der Vorfall einige bemerkenswerthe Seiten. Einmal lehrt er, daß wir
uns nicht zu sehr über andere Völker mit unserer Bildung überheben sollen.
Wenn irgendwo eine abstrakte Frage zur Erörterung kommt, wie über Theo¬
rie und Praxis, für deren Entscheidung der Unterschied zwischen dem niedrig-


Grcnzbotm I. 1874. 19
Dom preußischen Landtag.

Am 12. Januar haben die Sitzungen des Abgeordnetenhauses wieder
begonnen. Zwei Tage vorher hatten die Reichstagswahlen stattgefunden.
Die Beleuchtung der diesmaligen Wahlerscheinungen wäre ein interessantes
Thema, das aber einer anderen Gelegenheit vorbehalten werden muß. Wäh¬
rend den Landtag noch die wichtigsten Aufgaben beschäftigen, kann die öffent¬
liche Aufmerksamkeit nicht umhin, sich schon dem Reichstag zuzuwenden. Das
ist ein Uebelstand unseres deutschen Staatslebens, dem für jetzt nicht abzu¬
helfen ist, für den aber die Abhülfe einmal wird gefunden werden müssen.
Die Sitzung des Abgeordnetenhauses am 12. Januar begann mit ersten Be¬
rathungen, von denen zwei mit Ueberweisung der betreffenden Vorlagen an
besondere Commissionen endigten. Es war ein Gesetzentwurf über die Bethei¬
ligung des Staats an einer Berlin durchschneidenden Eisenbahn, und der
Entwurf einer neuen Vormundschaftsordnung. Ueber den Entwurf eines
Ftschereigesetzes wurde die Einzelberathung im Plenum beschlossen. In der
Sitzung am 13. Januar standen die Ausgaben des Justizministerium als
Theil des Staatshaushalts zur Einzelberathung. Dabei entspann sich eine
Erörterung, die wir nicht anders als abgeschmackt nennen können, über die
Zweckmäßigkeit, an den höchsten Gerichten Obertribunal und Oberappellations¬
gericht für die neuen Provinzen — eine beschränkte Zahl der Lehrer der Rechts¬
wissenschaft — es handelt sich um vier Stellen — unter Beibehaltung des
akademischen Amtes anzustellen. Die unglaublichsten Dinge wurden vorge¬
bracht: der Professor sei seiner Natur nach einseitig, der Richter müsse all¬
seitig sein; der Richter praktisch, der Professor theoretisch; man dürfe auch
einen Professor der Medizin nicht ans Krankenbett rufen; der Spruch: liat
Mstitig., perea-t munäus, sei eine Professorate Erfindung, und was des stau-
venswerthesten Unsinns mehr ist. Herr Windthorst hielt die Professoren als
Richter höchstens in den untersten Instanzen für brauchbar. Wir verschwei¬
gen nicht, daß auch verständige Worte der Entgegnung laut wurden, und
zwar nicht bloß von Seiten des pro äomo, aber sehr mit Recht pro äomo
sprechenden Professor Gneist. Die Nichterstellen für Professoren wurden
schließlich durch Streichung der dazu ausgesetzten Besoldungen auf zwei be¬
schränkt. Die Sache ist praktisch ohne alle und jede Erheblichkeit. Gleichwohl
bietet der Vorfall einige bemerkenswerthe Seiten. Einmal lehrt er, daß wir
uns nicht zu sehr über andere Völker mit unserer Bildung überheben sollen.
Wenn irgendwo eine abstrakte Frage zur Erörterung kommt, wie über Theo¬
rie und Praxis, für deren Entscheidung der Unterschied zwischen dem niedrig-


Grcnzbotm I. 1874. 19
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[0151] Dom preußischen Landtag. Am 12. Januar haben die Sitzungen des Abgeordnetenhauses wieder begonnen. Zwei Tage vorher hatten die Reichstagswahlen stattgefunden. Die Beleuchtung der diesmaligen Wahlerscheinungen wäre ein interessantes Thema, das aber einer anderen Gelegenheit vorbehalten werden muß. Wäh¬ rend den Landtag noch die wichtigsten Aufgaben beschäftigen, kann die öffent¬ liche Aufmerksamkeit nicht umhin, sich schon dem Reichstag zuzuwenden. Das ist ein Uebelstand unseres deutschen Staatslebens, dem für jetzt nicht abzu¬ helfen ist, für den aber die Abhülfe einmal wird gefunden werden müssen. Die Sitzung des Abgeordnetenhauses am 12. Januar begann mit ersten Be¬ rathungen, von denen zwei mit Ueberweisung der betreffenden Vorlagen an besondere Commissionen endigten. Es war ein Gesetzentwurf über die Bethei¬ ligung des Staats an einer Berlin durchschneidenden Eisenbahn, und der Entwurf einer neuen Vormundschaftsordnung. Ueber den Entwurf eines Ftschereigesetzes wurde die Einzelberathung im Plenum beschlossen. In der Sitzung am 13. Januar standen die Ausgaben des Justizministerium als Theil des Staatshaushalts zur Einzelberathung. Dabei entspann sich eine Erörterung, die wir nicht anders als abgeschmackt nennen können, über die Zweckmäßigkeit, an den höchsten Gerichten Obertribunal und Oberappellations¬ gericht für die neuen Provinzen — eine beschränkte Zahl der Lehrer der Rechts¬ wissenschaft — es handelt sich um vier Stellen — unter Beibehaltung des akademischen Amtes anzustellen. Die unglaublichsten Dinge wurden vorge¬ bracht: der Professor sei seiner Natur nach einseitig, der Richter müsse all¬ seitig sein; der Richter praktisch, der Professor theoretisch; man dürfe auch einen Professor der Medizin nicht ans Krankenbett rufen; der Spruch: liat Mstitig., perea-t munäus, sei eine Professorate Erfindung, und was des stau- venswerthesten Unsinns mehr ist. Herr Windthorst hielt die Professoren als Richter höchstens in den untersten Instanzen für brauchbar. Wir verschwei¬ gen nicht, daß auch verständige Worte der Entgegnung laut wurden, und zwar nicht bloß von Seiten des pro äomo, aber sehr mit Recht pro äomo sprechenden Professor Gneist. Die Nichterstellen für Professoren wurden schließlich durch Streichung der dazu ausgesetzten Besoldungen auf zwei be¬ schränkt. Die Sache ist praktisch ohne alle und jede Erheblichkeit. Gleichwohl bietet der Vorfall einige bemerkenswerthe Seiten. Einmal lehrt er, daß wir uns nicht zu sehr über andere Völker mit unserer Bildung überheben sollen. Wenn irgendwo eine abstrakte Frage zur Erörterung kommt, wie über Theo¬ rie und Praxis, für deren Entscheidung der Unterschied zwischen dem niedrig- Grcnzbotm I. 1874. 19

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/151>, abgerufen am 27.04.2024.