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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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Me Keichstagswahlen.

Bis auf eine geringe Anzahl von Nachwahlen, welche das Verhältniß
der Hauptparteien im deutschen Reichstage kaum wesentlich und nur zu
Gunsten der nationalen Richtung verschieben werden, liegt das Ergebniß der
Reichtagswahlen vom 10. Januar abgeschlossen vor uns. -- Das Gesammt,
ergebniß ist ein dem Freunde der Neugestaltung Deutschlands, dem reichs¬
treuen Deutschen hocherfreuliches: eine unzweifelhafte bedeutende Mehrheit ist
der nationalen Politik der Reichsregierung, der Förderung und Vollendung
der großen Aufgaben gesichert, welche den Reichstag in seiner nächsten Legis¬
laturperiode beschäftigen werden.

Allein die Freude über dieses Gesammtergebniß ist keineswegs eine un¬
getrübte. Denn vor Allem setzt sich auch die Majorität aus sehr verschieden¬
artigen Bestandtheilen zusammen, die wir nicht alle, unter allen Umständen
für gleich bereitwillig halten, die Anforderungen, welche die Reichsregierung
für die Wehrkraft Deutschlands nach außen und zur Bekämpfung der Neichs-
rebellen im Innern an den deutschen Reichstag stellen muß und wird, zu
unterstützen. Denn die reichstreue Majorität umfaßt die Conservcitiven. die
deutsche Reichspartei, die liberale Reichspartei, die Nationalliberalen, die Fort¬
schrittspartei. Keiner dieser Fractionen soll deutscher Sinn und deutsches
Pflichtbewußtsein abgesprochen werden. Aber niemand, der die Abstimmungs¬
listen der letzten Jahre durchgeht, und noch weniger derjenige, welcher sehr
viele der schätzbaren Persönlichkeiten kennt, die in den einzelnen Fractionen
eine leitende Rolle spielen, wird sich dem optimistischen Glauben hingeben,
daß in den entscheidendsten Fragen die Majorität wie ein Mann stimmen
werde. Ueberhaupt nur einmal in unserm parlamentarischen Leben ist das
erlebt worden: als der Erbfeind im Juli 1870 an unsre Thore klopfte. Da¬
mals allein hat der hoffnungsvolle Nachwuchs der Fortschrittspartei, und der
Particularismus, der seitdem unter der wohlklingenden Firma der "liberalen
Reichspartei" ein Unterkommen als stiller Gesellschafter gefunden hat, darauf
verzichtet, die alten constitutionellen oder in den verschiedenen Landesfarben an¬
gestrichenen Steckenpferde vorzureiten. Im Winter 1870 dagegen, noch wäh¬
rend des Krieges gegen Paris und Gambetta, bet Berathung der Versailler
Verträge, hatte z. B. das Gros der "deutschen Fortschrittspartei" den Muth
der Rückkehr zum altgewohnten Spielzeug schon wiedergefunden. Wir werden
dasselbe Schauspiel in entscheidenden Stunden leider noch oft erleben.

Aber selbst angenommen, es gelinge bei solchen Verhandlungen und
Abstimmungen von entscheidendster Tragweite Männern von der lauteren
Vaterlandsliebe und staatsmännischen Klugheit eines Löwe und Schulze-


Grenzboten I. 1874. - 20
Me Keichstagswahlen.

Bis auf eine geringe Anzahl von Nachwahlen, welche das Verhältniß
der Hauptparteien im deutschen Reichstage kaum wesentlich und nur zu
Gunsten der nationalen Richtung verschieben werden, liegt das Ergebniß der
Reichtagswahlen vom 10. Januar abgeschlossen vor uns. — Das Gesammt,
ergebniß ist ein dem Freunde der Neugestaltung Deutschlands, dem reichs¬
treuen Deutschen hocherfreuliches: eine unzweifelhafte bedeutende Mehrheit ist
der nationalen Politik der Reichsregierung, der Förderung und Vollendung
der großen Aufgaben gesichert, welche den Reichstag in seiner nächsten Legis¬
laturperiode beschäftigen werden.

Allein die Freude über dieses Gesammtergebniß ist keineswegs eine un¬
getrübte. Denn vor Allem setzt sich auch die Majorität aus sehr verschieden¬
artigen Bestandtheilen zusammen, die wir nicht alle, unter allen Umständen
für gleich bereitwillig halten, die Anforderungen, welche die Reichsregierung
für die Wehrkraft Deutschlands nach außen und zur Bekämpfung der Neichs-
rebellen im Innern an den deutschen Reichstag stellen muß und wird, zu
unterstützen. Denn die reichstreue Majorität umfaßt die Conservcitiven. die
deutsche Reichspartei, die liberale Reichspartei, die Nationalliberalen, die Fort¬
schrittspartei. Keiner dieser Fractionen soll deutscher Sinn und deutsches
Pflichtbewußtsein abgesprochen werden. Aber niemand, der die Abstimmungs¬
listen der letzten Jahre durchgeht, und noch weniger derjenige, welcher sehr
viele der schätzbaren Persönlichkeiten kennt, die in den einzelnen Fractionen
eine leitende Rolle spielen, wird sich dem optimistischen Glauben hingeben,
daß in den entscheidendsten Fragen die Majorität wie ein Mann stimmen
werde. Ueberhaupt nur einmal in unserm parlamentarischen Leben ist das
erlebt worden: als der Erbfeind im Juli 1870 an unsre Thore klopfte. Da¬
mals allein hat der hoffnungsvolle Nachwuchs der Fortschrittspartei, und der
Particularismus, der seitdem unter der wohlklingenden Firma der „liberalen
Reichspartei" ein Unterkommen als stiller Gesellschafter gefunden hat, darauf
verzichtet, die alten constitutionellen oder in den verschiedenen Landesfarben an¬
gestrichenen Steckenpferde vorzureiten. Im Winter 1870 dagegen, noch wäh¬
rend des Krieges gegen Paris und Gambetta, bet Berathung der Versailler
Verträge, hatte z. B. das Gros der „deutschen Fortschrittspartei" den Muth
der Rückkehr zum altgewohnten Spielzeug schon wiedergefunden. Wir werden
dasselbe Schauspiel in entscheidenden Stunden leider noch oft erleben.

Aber selbst angenommen, es gelinge bei solchen Verhandlungen und
Abstimmungen von entscheidendster Tragweite Männern von der lauteren
Vaterlandsliebe und staatsmännischen Klugheit eines Löwe und Schulze-


Grenzboten I. 1874. - 20
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[0159] Me Keichstagswahlen. Bis auf eine geringe Anzahl von Nachwahlen, welche das Verhältniß der Hauptparteien im deutschen Reichstage kaum wesentlich und nur zu Gunsten der nationalen Richtung verschieben werden, liegt das Ergebniß der Reichtagswahlen vom 10. Januar abgeschlossen vor uns. — Das Gesammt, ergebniß ist ein dem Freunde der Neugestaltung Deutschlands, dem reichs¬ treuen Deutschen hocherfreuliches: eine unzweifelhafte bedeutende Mehrheit ist der nationalen Politik der Reichsregierung, der Förderung und Vollendung der großen Aufgaben gesichert, welche den Reichstag in seiner nächsten Legis¬ laturperiode beschäftigen werden. Allein die Freude über dieses Gesammtergebniß ist keineswegs eine un¬ getrübte. Denn vor Allem setzt sich auch die Majorität aus sehr verschieden¬ artigen Bestandtheilen zusammen, die wir nicht alle, unter allen Umständen für gleich bereitwillig halten, die Anforderungen, welche die Reichsregierung für die Wehrkraft Deutschlands nach außen und zur Bekämpfung der Neichs- rebellen im Innern an den deutschen Reichstag stellen muß und wird, zu unterstützen. Denn die reichstreue Majorität umfaßt die Conservcitiven. die deutsche Reichspartei, die liberale Reichspartei, die Nationalliberalen, die Fort¬ schrittspartei. Keiner dieser Fractionen soll deutscher Sinn und deutsches Pflichtbewußtsein abgesprochen werden. Aber niemand, der die Abstimmungs¬ listen der letzten Jahre durchgeht, und noch weniger derjenige, welcher sehr viele der schätzbaren Persönlichkeiten kennt, die in den einzelnen Fractionen eine leitende Rolle spielen, wird sich dem optimistischen Glauben hingeben, daß in den entscheidendsten Fragen die Majorität wie ein Mann stimmen werde. Ueberhaupt nur einmal in unserm parlamentarischen Leben ist das erlebt worden: als der Erbfeind im Juli 1870 an unsre Thore klopfte. Da¬ mals allein hat der hoffnungsvolle Nachwuchs der Fortschrittspartei, und der Particularismus, der seitdem unter der wohlklingenden Firma der „liberalen Reichspartei" ein Unterkommen als stiller Gesellschafter gefunden hat, darauf verzichtet, die alten constitutionellen oder in den verschiedenen Landesfarben an¬ gestrichenen Steckenpferde vorzureiten. Im Winter 1870 dagegen, noch wäh¬ rend des Krieges gegen Paris und Gambetta, bet Berathung der Versailler Verträge, hatte z. B. das Gros der „deutschen Fortschrittspartei" den Muth der Rückkehr zum altgewohnten Spielzeug schon wiedergefunden. Wir werden dasselbe Schauspiel in entscheidenden Stunden leider noch oft erleben. Aber selbst angenommen, es gelinge bei solchen Verhandlungen und Abstimmungen von entscheidendster Tragweite Männern von der lauteren Vaterlandsliebe und staatsmännischen Klugheit eines Löwe und Schulze- Grenzboten I. 1874. - 20

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/159>, abgerufen am 27.04.2024.