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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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Mus dem Aeichslande.

DaS große Experiment ist gemacht. Zum ersten Male seit seiner Wieder¬
vereinigung mit Deutschland hat Elsaßlothringen politische Wahlen vollzogen.
Sie sind dem deutschen Reiche, wie es heute dasteht und regiert wird, durch¬
weg feindlich ausgefallen. Sehr ungerechtfertigt wäre es, wollte man diese
Thatsache einfach als solche hinnehmen, ohne dem Wesen, den Motiven dieser
Feindseligkeit näher nachzuspüren.

Anfangs schien die reichsländische Wählerschaft vor eine sehr klare Alter¬
native gestellt: Anerkennung der Vereinigung mit Deutschland und Bereit¬
willigkeit, auf dieser Basis die politischen Verhältnisse des Heimathlandes neu
zu organisiren, oder Protest gegen die Vereinigung und Ablehnung jeder Be¬
theiligung an dem Auf- und Ausbau des Reichslandes. Wer das Letztere
wollte, wäre am einfachsten verfahren, wenn er sich der Wahl enthielt. In
der Pariser Presse wurde denn auch Abstention Anfangs sehr dringend em¬
pfohlen. Recht drastisch malte man sich bereits die verzweifelte Lage der
deutschen Regierung, ihre Blosstellung vor ganz Europa aus, wenn am
Wahltage nur ein paar "preußische" Beamte an der Urne erscheinen würden,
um die vor Langweile eingeschlafenen Wahlcommissionen an den Zweck ihres
Daseins zu erinnern. Aber man übersah dabei, daß in den abgetretenen
Provinzen längst eine Partei dem Augenblicke der Action entgegen harrte, die
ihre Parole nicht, wenigstens nicht direct von Paris zu empfangen gewohnt
ist. So lenkte man denn noch bei Zeiten ein und proclamirte die Nothwendig¬
kett der Wahl von Candidaten, welche im Reichstage kurzweg gegen die
Annexion Protestiren würden. Der logische Widerspruch, die Zugehörigkeit
zu einem Staate zurückzuweisen, auf Grund von dessen Gesetzen und als dessen
Bürger man sich hat wählen lassen, ist freilich in die Augen springend. In¬
deß, politisch genommen wird man keiner Partei verargen können, wenn sie
sich zur Erreichung ihrer Zwecke der formalen Logik widerstreitender Mittel
bedient, sobald nur dieselben sich in den Schranken der Gesetzmäßigkeit halten.
Eine an den Wahlen sich betheiligende französische Protestpartei gleicht aller¬
dings dem Manne, der den Ast absagt, auf welchem er sitzt; aber gerade das
Absagen ist ja der Zweck dieser Partei.

Von vornherein trat der Protestagitation eine den ersten Theil der oben
aufgestellten Alternative vertretende Richtung entgegen, die autonomisttsche
oder schlechtweg elsässische Partei. Ihre Aussichten schienen auf den ersten
Blick nicht hoffnungslos. War doch soeben gerade der Bezirkstag von Ober-
elsaß, ja selbst derjenige von Lothringen, welche beide im vorigen Herbst


Grenzboten I. 1874. 3V
Mus dem Aeichslande.

DaS große Experiment ist gemacht. Zum ersten Male seit seiner Wieder¬
vereinigung mit Deutschland hat Elsaßlothringen politische Wahlen vollzogen.
Sie sind dem deutschen Reiche, wie es heute dasteht und regiert wird, durch¬
weg feindlich ausgefallen. Sehr ungerechtfertigt wäre es, wollte man diese
Thatsache einfach als solche hinnehmen, ohne dem Wesen, den Motiven dieser
Feindseligkeit näher nachzuspüren.

Anfangs schien die reichsländische Wählerschaft vor eine sehr klare Alter¬
native gestellt: Anerkennung der Vereinigung mit Deutschland und Bereit¬
willigkeit, auf dieser Basis die politischen Verhältnisse des Heimathlandes neu
zu organisiren, oder Protest gegen die Vereinigung und Ablehnung jeder Be¬
theiligung an dem Auf- und Ausbau des Reichslandes. Wer das Letztere
wollte, wäre am einfachsten verfahren, wenn er sich der Wahl enthielt. In
der Pariser Presse wurde denn auch Abstention Anfangs sehr dringend em¬
pfohlen. Recht drastisch malte man sich bereits die verzweifelte Lage der
deutschen Regierung, ihre Blosstellung vor ganz Europa aus, wenn am
Wahltage nur ein paar „preußische" Beamte an der Urne erscheinen würden,
um die vor Langweile eingeschlafenen Wahlcommissionen an den Zweck ihres
Daseins zu erinnern. Aber man übersah dabei, daß in den abgetretenen
Provinzen längst eine Partei dem Augenblicke der Action entgegen harrte, die
ihre Parole nicht, wenigstens nicht direct von Paris zu empfangen gewohnt
ist. So lenkte man denn noch bei Zeiten ein und proclamirte die Nothwendig¬
kett der Wahl von Candidaten, welche im Reichstage kurzweg gegen die
Annexion Protestiren würden. Der logische Widerspruch, die Zugehörigkeit
zu einem Staate zurückzuweisen, auf Grund von dessen Gesetzen und als dessen
Bürger man sich hat wählen lassen, ist freilich in die Augen springend. In¬
deß, politisch genommen wird man keiner Partei verargen können, wenn sie
sich zur Erreichung ihrer Zwecke der formalen Logik widerstreitender Mittel
bedient, sobald nur dieselben sich in den Schranken der Gesetzmäßigkeit halten.
Eine an den Wahlen sich betheiligende französische Protestpartei gleicht aller¬
dings dem Manne, der den Ast absagt, auf welchem er sitzt; aber gerade das
Absagen ist ja der Zweck dieser Partei.

Von vornherein trat der Protestagitation eine den ersten Theil der oben
aufgestellten Alternative vertretende Richtung entgegen, die autonomisttsche
oder schlechtweg elsässische Partei. Ihre Aussichten schienen auf den ersten
Blick nicht hoffnungslos. War doch soeben gerade der Bezirkstag von Ober-
elsaß, ja selbst derjenige von Lothringen, welche beide im vorigen Herbst


Grenzboten I. 1874. 3V
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[0279] Mus dem Aeichslande. DaS große Experiment ist gemacht. Zum ersten Male seit seiner Wieder¬ vereinigung mit Deutschland hat Elsaßlothringen politische Wahlen vollzogen. Sie sind dem deutschen Reiche, wie es heute dasteht und regiert wird, durch¬ weg feindlich ausgefallen. Sehr ungerechtfertigt wäre es, wollte man diese Thatsache einfach als solche hinnehmen, ohne dem Wesen, den Motiven dieser Feindseligkeit näher nachzuspüren. Anfangs schien die reichsländische Wählerschaft vor eine sehr klare Alter¬ native gestellt: Anerkennung der Vereinigung mit Deutschland und Bereit¬ willigkeit, auf dieser Basis die politischen Verhältnisse des Heimathlandes neu zu organisiren, oder Protest gegen die Vereinigung und Ablehnung jeder Be¬ theiligung an dem Auf- und Ausbau des Reichslandes. Wer das Letztere wollte, wäre am einfachsten verfahren, wenn er sich der Wahl enthielt. In der Pariser Presse wurde denn auch Abstention Anfangs sehr dringend em¬ pfohlen. Recht drastisch malte man sich bereits die verzweifelte Lage der deutschen Regierung, ihre Blosstellung vor ganz Europa aus, wenn am Wahltage nur ein paar „preußische" Beamte an der Urne erscheinen würden, um die vor Langweile eingeschlafenen Wahlcommissionen an den Zweck ihres Daseins zu erinnern. Aber man übersah dabei, daß in den abgetretenen Provinzen längst eine Partei dem Augenblicke der Action entgegen harrte, die ihre Parole nicht, wenigstens nicht direct von Paris zu empfangen gewohnt ist. So lenkte man denn noch bei Zeiten ein und proclamirte die Nothwendig¬ kett der Wahl von Candidaten, welche im Reichstage kurzweg gegen die Annexion Protestiren würden. Der logische Widerspruch, die Zugehörigkeit zu einem Staate zurückzuweisen, auf Grund von dessen Gesetzen und als dessen Bürger man sich hat wählen lassen, ist freilich in die Augen springend. In¬ deß, politisch genommen wird man keiner Partei verargen können, wenn sie sich zur Erreichung ihrer Zwecke der formalen Logik widerstreitender Mittel bedient, sobald nur dieselben sich in den Schranken der Gesetzmäßigkeit halten. Eine an den Wahlen sich betheiligende französische Protestpartei gleicht aller¬ dings dem Manne, der den Ast absagt, auf welchem er sitzt; aber gerade das Absagen ist ja der Zweck dieser Partei. Von vornherein trat der Protestagitation eine den ersten Theil der oben aufgestellten Alternative vertretende Richtung entgegen, die autonomisttsche oder schlechtweg elsässische Partei. Ihre Aussichten schienen auf den ersten Blick nicht hoffnungslos. War doch soeben gerade der Bezirkstag von Ober- elsaß, ja selbst derjenige von Lothringen, welche beide im vorigen Herbst Grenzboten I. 1874. 3V

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/279>, abgerufen am 27.04.2024.