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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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Dom deutschen Keichstag.

Auch in der letztvergangenen Woche hat der Reichstag in wenigen
Sitzungen sich mit unbedeutenden Gegenständen beschäftigt, um den Com¬
missionen, um vor allen der Militärcommission, die Zeit zur Arbeit zu ge¬
währen, welche freilich von dieser Commission nicht richtig benutzt wird. Die
Zeit, welche in den seltenen Plenarsitzungen auf unbedeutende Gegenstände
verwendet worden, ist immer noch verschwendet. In einer mit großen gesetz¬
geberischen Aufgaben überfüllten Zeit, wie die unsere, soll über Dinge, wie
der Impfzwang, dive abgestimmt werden, nachdem das nöthige Material
von einer Commission, wie sie gerade bei solchen Dingen am Platze sind,
durchgesehen worden. Gehört das Sträuben der Unbildung gegen die Wohl¬
that des Jmpfens, gehört die Vertheidigung des Privilegiums für Vorurtheil
und Unwissenheit, Leben und Gesundheit ihrer Mitbürger auf das Spiel zu
setzen, wohl auf die Bänke des deutschen Reichstags und nicht auf irgend eine
Bierbank? Der Arbeitsplan unserer großen parlamentarischen Körper muß
durch das Zusammenwirken von Regierung und parlamentarischem Präsidium
in jeder Session sorgfältiger regulirt werden.

Am le. März kam bei Gelegenheit eines Berichtes der Petitionscom¬
mission die unvorsichtige Petition einiger Geistlichen und Lehrer aus Schlesien
zur Sprache, gerichtet gegen den Artikel des Strafgesetzbuches, welcher die
Verantwortlichkeit vor dem Strafgesetz erst mit dem vollendeten zwölften
Lebensjahre beginnen läßt. Die strafrechtliche Verantwortungslosigkeit der
Kinder unter zwölf Jahren mag hin und wieder ihre Uebelstände haben.
Zur Abhülfe nach der Geltung des Strafgesetzes greifen bis zum fünften
Jahre herab oder womöglich bis zum Säuglingsalter kann nur die unver¬
ständige Hast roher Gedankenlosigkeit. Der Reichstag sah sich unvorbereitet
vor eines der schwersten Probleme, vor das Problem des Schutzes hülfloser
Kinder gegen die Verderbmß durch unmoralische Eltern gestellt. Natürlich
konnte eine so vielseitig in Bezug auf den Rechtsgrund wie auf die Mittel
der Ausführung bedenkliche und doch dringende Frage nicht aus freier Hand
gelöst werden. Und doch hätte, dünkt mich, dem socialdemokratischen Abge¬
ordneten, welcher die Ueberweisung der Petition an den Reichskanzler mit
dem Ersuchen um Vorlegung eines die Frage regelnden Gesetzentwurfs bean¬
tragte, anders begegnet werden sollen als geschehen. Der Reichstag hat
durchaus die Pflicht, za zeigen, daß er den einzelnen schweren Symptomen
des socialen Leidens gegenüber nicht die Maxime des Gehenlassens befolgen
will. Natürlich kann er dieses Leiden nicht überall sogleich anfassen, wo er
nur darauf hingewiesen wird. Aber warum nicht einen Ausschuß zur Prüfung


Grenzboten l. 1874. 59
Dom deutschen Keichstag.

Auch in der letztvergangenen Woche hat der Reichstag in wenigen
Sitzungen sich mit unbedeutenden Gegenständen beschäftigt, um den Com¬
missionen, um vor allen der Militärcommission, die Zeit zur Arbeit zu ge¬
währen, welche freilich von dieser Commission nicht richtig benutzt wird. Die
Zeit, welche in den seltenen Plenarsitzungen auf unbedeutende Gegenstände
verwendet worden, ist immer noch verschwendet. In einer mit großen gesetz¬
geberischen Aufgaben überfüllten Zeit, wie die unsere, soll über Dinge, wie
der Impfzwang, dive abgestimmt werden, nachdem das nöthige Material
von einer Commission, wie sie gerade bei solchen Dingen am Platze sind,
durchgesehen worden. Gehört das Sträuben der Unbildung gegen die Wohl¬
that des Jmpfens, gehört die Vertheidigung des Privilegiums für Vorurtheil
und Unwissenheit, Leben und Gesundheit ihrer Mitbürger auf das Spiel zu
setzen, wohl auf die Bänke des deutschen Reichstags und nicht auf irgend eine
Bierbank? Der Arbeitsplan unserer großen parlamentarischen Körper muß
durch das Zusammenwirken von Regierung und parlamentarischem Präsidium
in jeder Session sorgfältiger regulirt werden.

Am le. März kam bei Gelegenheit eines Berichtes der Petitionscom¬
mission die unvorsichtige Petition einiger Geistlichen und Lehrer aus Schlesien
zur Sprache, gerichtet gegen den Artikel des Strafgesetzbuches, welcher die
Verantwortlichkeit vor dem Strafgesetz erst mit dem vollendeten zwölften
Lebensjahre beginnen läßt. Die strafrechtliche Verantwortungslosigkeit der
Kinder unter zwölf Jahren mag hin und wieder ihre Uebelstände haben.
Zur Abhülfe nach der Geltung des Strafgesetzes greifen bis zum fünften
Jahre herab oder womöglich bis zum Säuglingsalter kann nur die unver¬
ständige Hast roher Gedankenlosigkeit. Der Reichstag sah sich unvorbereitet
vor eines der schwersten Probleme, vor das Problem des Schutzes hülfloser
Kinder gegen die Verderbmß durch unmoralische Eltern gestellt. Natürlich
konnte eine so vielseitig in Bezug auf den Rechtsgrund wie auf die Mittel
der Ausführung bedenkliche und doch dringende Frage nicht aus freier Hand
gelöst werden. Und doch hätte, dünkt mich, dem socialdemokratischen Abge¬
ordneten, welcher die Ueberweisung der Petition an den Reichskanzler mit
dem Ersuchen um Vorlegung eines die Frage regelnden Gesetzentwurfs bean¬
tragte, anders begegnet werden sollen als geschehen. Der Reichstag hat
durchaus die Pflicht, za zeigen, daß er den einzelnen schweren Symptomen
des socialen Leidens gegenüber nicht die Maxime des Gehenlassens befolgen
will. Natürlich kann er dieses Leiden nicht überall sogleich anfassen, wo er
nur darauf hingewiesen wird. Aber warum nicht einen Ausschuß zur Prüfung


Grenzboten l. 1874. 59
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[0471] Dom deutschen Keichstag. Auch in der letztvergangenen Woche hat der Reichstag in wenigen Sitzungen sich mit unbedeutenden Gegenständen beschäftigt, um den Com¬ missionen, um vor allen der Militärcommission, die Zeit zur Arbeit zu ge¬ währen, welche freilich von dieser Commission nicht richtig benutzt wird. Die Zeit, welche in den seltenen Plenarsitzungen auf unbedeutende Gegenstände verwendet worden, ist immer noch verschwendet. In einer mit großen gesetz¬ geberischen Aufgaben überfüllten Zeit, wie die unsere, soll über Dinge, wie der Impfzwang, dive abgestimmt werden, nachdem das nöthige Material von einer Commission, wie sie gerade bei solchen Dingen am Platze sind, durchgesehen worden. Gehört das Sträuben der Unbildung gegen die Wohl¬ that des Jmpfens, gehört die Vertheidigung des Privilegiums für Vorurtheil und Unwissenheit, Leben und Gesundheit ihrer Mitbürger auf das Spiel zu setzen, wohl auf die Bänke des deutschen Reichstags und nicht auf irgend eine Bierbank? Der Arbeitsplan unserer großen parlamentarischen Körper muß durch das Zusammenwirken von Regierung und parlamentarischem Präsidium in jeder Session sorgfältiger regulirt werden. Am le. März kam bei Gelegenheit eines Berichtes der Petitionscom¬ mission die unvorsichtige Petition einiger Geistlichen und Lehrer aus Schlesien zur Sprache, gerichtet gegen den Artikel des Strafgesetzbuches, welcher die Verantwortlichkeit vor dem Strafgesetz erst mit dem vollendeten zwölften Lebensjahre beginnen läßt. Die strafrechtliche Verantwortungslosigkeit der Kinder unter zwölf Jahren mag hin und wieder ihre Uebelstände haben. Zur Abhülfe nach der Geltung des Strafgesetzes greifen bis zum fünften Jahre herab oder womöglich bis zum Säuglingsalter kann nur die unver¬ ständige Hast roher Gedankenlosigkeit. Der Reichstag sah sich unvorbereitet vor eines der schwersten Probleme, vor das Problem des Schutzes hülfloser Kinder gegen die Verderbmß durch unmoralische Eltern gestellt. Natürlich konnte eine so vielseitig in Bezug auf den Rechtsgrund wie auf die Mittel der Ausführung bedenkliche und doch dringende Frage nicht aus freier Hand gelöst werden. Und doch hätte, dünkt mich, dem socialdemokratischen Abge¬ ordneten, welcher die Ueberweisung der Petition an den Reichskanzler mit dem Ersuchen um Vorlegung eines die Frage regelnden Gesetzentwurfs bean¬ tragte, anders begegnet werden sollen als geschehen. Der Reichstag hat durchaus die Pflicht, za zeigen, daß er den einzelnen schweren Symptomen des socialen Leidens gegenüber nicht die Maxime des Gehenlassens befolgen will. Natürlich kann er dieses Leiden nicht überall sogleich anfassen, wo er nur darauf hingewiesen wird. Aber warum nicht einen Ausschuß zur Prüfung Grenzboten l. 1874. 59

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/471>, abgerufen am 28.04.2024.