Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite
Der gegenwärtige Stand der Entwürfe einer deutschen
Strafpro cchordnung.*)

Rascher als die Vertheidiger des Geschwornengerichts erwarten durften,
ist die Entscheidung zu ihren Gunsten gefallen. Es hat nicht erst der Be¬
schlußfassung des Reichstages bedurft. Der Bundesrath hat bei der defini¬
tiven Beschlußfassung von der projectirten Schöffengerichtsverfassung Abstand
genommen. Ist schon hierdurch eine sehr wesentliche Umgestaltung des bis¬
herigen Entwurfs der deutschen Strasproceßordnung nothwendig geworden,
so knüpft sich daran für diejenigen, welche die Idee des Rechtsstaates auf
nationaler Grundlage, und nicht etwa eine verbesserte französische Schablone
als das Ziel der deutschen Gesetzgebung betrachten, die Hoffnung, daß der
Entwurf, über welchen demnächst der Reichstag zu beschließen haben wird,
auch in anderen Beziehungen von einem anderen Geiste durchdrungen sein
werde, als derjenige war, den wir in mannigfachen Bestimmungen der frühe¬
ren Entwürfe zu bemerken Gelegenheit fanden.

Ohne Zweifel hat zu diesem Resultat und zu dieser Hoffnung die feste
Haltung der sämmtlichen Liberalen Süddeutschlands und die darauf fußende
Erklärung der baierischen und würtembergischen und vielleicht überhaupt der
süddeutschen Bundesbevollmächtigten das Wesentlichste beigetragen, während
-- wir mögen diesen Vorwurf als einen wohlbegründeten hier nicht unter¬
drücken -- die große Zahl der norddeutschen Liberalen die weittragende ja
enorm politische Bedeutung der Strafproceßordnung und insbesondere der
Geschwornengerichte kaum ins Auge zu fassen, geschweige denn vollkommen zu
würdigen schien. Vielleicht aber gebührt auch ein nicht unbedeutender Antheil
an der Erhaltung des Geschwornengerichts der in der Anmerkung genannten
Arbeit Gneist's: wenigstens ist dieselbe kurz vor dem Bekanntwerden der
Beschlüsse des Bundesraths erschienen, und es läßt sich leicht ermessen, welche
Bedeutung es für diese Beschlüsse haben mußte, wenn gerade die Autorität
Gu el se's eine unumwundene fast vollständige Verurtheilung der Grund¬
lagen der bisherigen Entwürfe ausspricht.

Die Gefahr einer Verdrängung des Geschwornengerichts durch das
Schöffengericht ist wie bemerkt jetzt überwunden, und dem Fachmanne hier
wesentlich Neues zu sagen, war nach der eingehenden und langdauernden Po¬
lemik der auf beiden Seiten engagirten Theoretiker und Praktiker kaum möglich.
Aber den im Ganzen doch weniger orientirten Politikern kann mit Grund



") Mit besonderer Rücksicht auf Rudolph Gneist: Vier Fragen einer deutschen Straf¬
proceßordnung mit einem Schlußwort über die Schöffengerichte. Berlin, 1S74, Julius Springer.
Grenzboten it. 1874. 3
Der gegenwärtige Stand der Entwürfe einer deutschen
Strafpro cchordnung.*)

Rascher als die Vertheidiger des Geschwornengerichts erwarten durften,
ist die Entscheidung zu ihren Gunsten gefallen. Es hat nicht erst der Be¬
schlußfassung des Reichstages bedurft. Der Bundesrath hat bei der defini¬
tiven Beschlußfassung von der projectirten Schöffengerichtsverfassung Abstand
genommen. Ist schon hierdurch eine sehr wesentliche Umgestaltung des bis¬
herigen Entwurfs der deutschen Strasproceßordnung nothwendig geworden,
so knüpft sich daran für diejenigen, welche die Idee des Rechtsstaates auf
nationaler Grundlage, und nicht etwa eine verbesserte französische Schablone
als das Ziel der deutschen Gesetzgebung betrachten, die Hoffnung, daß der
Entwurf, über welchen demnächst der Reichstag zu beschließen haben wird,
auch in anderen Beziehungen von einem anderen Geiste durchdrungen sein
werde, als derjenige war, den wir in mannigfachen Bestimmungen der frühe¬
ren Entwürfe zu bemerken Gelegenheit fanden.

Ohne Zweifel hat zu diesem Resultat und zu dieser Hoffnung die feste
Haltung der sämmtlichen Liberalen Süddeutschlands und die darauf fußende
Erklärung der baierischen und würtembergischen und vielleicht überhaupt der
süddeutschen Bundesbevollmächtigten das Wesentlichste beigetragen, während
— wir mögen diesen Vorwurf als einen wohlbegründeten hier nicht unter¬
drücken — die große Zahl der norddeutschen Liberalen die weittragende ja
enorm politische Bedeutung der Strafproceßordnung und insbesondere der
Geschwornengerichte kaum ins Auge zu fassen, geschweige denn vollkommen zu
würdigen schien. Vielleicht aber gebührt auch ein nicht unbedeutender Antheil
an der Erhaltung des Geschwornengerichts der in der Anmerkung genannten
Arbeit Gneist's: wenigstens ist dieselbe kurz vor dem Bekanntwerden der
Beschlüsse des Bundesraths erschienen, und es läßt sich leicht ermessen, welche
Bedeutung es für diese Beschlüsse haben mußte, wenn gerade die Autorität
Gu el se's eine unumwundene fast vollständige Verurtheilung der Grund¬
lagen der bisherigen Entwürfe ausspricht.

Die Gefahr einer Verdrängung des Geschwornengerichts durch das
Schöffengericht ist wie bemerkt jetzt überwunden, und dem Fachmanne hier
wesentlich Neues zu sagen, war nach der eingehenden und langdauernden Po¬
lemik der auf beiden Seiten engagirten Theoretiker und Praktiker kaum möglich.
Aber den im Ganzen doch weniger orientirten Politikern kann mit Grund



") Mit besonderer Rücksicht auf Rudolph Gneist: Vier Fragen einer deutschen Straf¬
proceßordnung mit einem Schlußwort über die Schöffengerichte. Berlin, 1S74, Julius Springer.
Grenzboten it. 1874. 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0025" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/131201"/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Der gegenwärtige Stand der Entwürfe einer deutschen<lb/>
Strafpro cchordnung.*)</head><lb/>
          <p xml:id="ID_48"> Rascher als die Vertheidiger des Geschwornengerichts erwarten durften,<lb/>
ist die Entscheidung zu ihren Gunsten gefallen. Es hat nicht erst der Be¬<lb/>
schlußfassung des Reichstages bedurft. Der Bundesrath hat bei der defini¬<lb/>
tiven Beschlußfassung von der projectirten Schöffengerichtsverfassung Abstand<lb/>
genommen. Ist schon hierdurch eine sehr wesentliche Umgestaltung des bis¬<lb/>
herigen Entwurfs der deutschen Strasproceßordnung nothwendig geworden,<lb/>
so knüpft sich daran für diejenigen, welche die Idee des Rechtsstaates auf<lb/>
nationaler Grundlage, und nicht etwa eine verbesserte französische Schablone<lb/>
als das Ziel der deutschen Gesetzgebung betrachten, die Hoffnung, daß der<lb/>
Entwurf, über welchen demnächst der Reichstag zu beschließen haben wird,<lb/>
auch in anderen Beziehungen von einem anderen Geiste durchdrungen sein<lb/>
werde, als derjenige war, den wir in mannigfachen Bestimmungen der frühe¬<lb/>
ren Entwürfe zu bemerken Gelegenheit fanden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_49"> Ohne Zweifel hat zu diesem Resultat und zu dieser Hoffnung die feste<lb/>
Haltung der sämmtlichen Liberalen Süddeutschlands und die darauf fußende<lb/>
Erklärung der baierischen und würtembergischen und vielleicht überhaupt der<lb/>
süddeutschen Bundesbevollmächtigten das Wesentlichste beigetragen, während<lb/>
&#x2014; wir mögen diesen Vorwurf als einen wohlbegründeten hier nicht unter¬<lb/>
drücken &#x2014; die große Zahl der norddeutschen Liberalen die weittragende ja<lb/>
enorm politische Bedeutung der Strafproceßordnung und insbesondere der<lb/>
Geschwornengerichte kaum ins Auge zu fassen, geschweige denn vollkommen zu<lb/>
würdigen schien. Vielleicht aber gebührt auch ein nicht unbedeutender Antheil<lb/>
an der Erhaltung des Geschwornengerichts der in der Anmerkung genannten<lb/>
Arbeit Gneist's: wenigstens ist dieselbe kurz vor dem Bekanntwerden der<lb/>
Beschlüsse des Bundesraths erschienen, und es läßt sich leicht ermessen, welche<lb/>
Bedeutung es für diese Beschlüsse haben mußte, wenn gerade die Autorität<lb/>
Gu el se's eine unumwundene fast vollständige Verurtheilung der Grund¬<lb/>
lagen der bisherigen Entwürfe ausspricht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_50" next="#ID_51"> Die Gefahr einer Verdrängung des Geschwornengerichts durch das<lb/>
Schöffengericht ist wie bemerkt jetzt überwunden, und dem Fachmanne hier<lb/>
wesentlich Neues zu sagen, war nach der eingehenden und langdauernden Po¬<lb/>
lemik der auf beiden Seiten engagirten Theoretiker und Praktiker kaum möglich.<lb/>
Aber den im Ganzen doch weniger orientirten Politikern kann mit Grund</p><lb/>
          <note xml:id="FID_3" place="foot"> ") Mit besonderer Rücksicht auf Rudolph Gneist: Vier Fragen einer deutschen Straf¬<lb/>
proceßordnung mit einem Schlußwort über die Schöffengerichte. Berlin, 1S74, Julius Springer.</note><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten it. 1874. 3</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0025] Der gegenwärtige Stand der Entwürfe einer deutschen Strafpro cchordnung.*) Rascher als die Vertheidiger des Geschwornengerichts erwarten durften, ist die Entscheidung zu ihren Gunsten gefallen. Es hat nicht erst der Be¬ schlußfassung des Reichstages bedurft. Der Bundesrath hat bei der defini¬ tiven Beschlußfassung von der projectirten Schöffengerichtsverfassung Abstand genommen. Ist schon hierdurch eine sehr wesentliche Umgestaltung des bis¬ herigen Entwurfs der deutschen Strasproceßordnung nothwendig geworden, so knüpft sich daran für diejenigen, welche die Idee des Rechtsstaates auf nationaler Grundlage, und nicht etwa eine verbesserte französische Schablone als das Ziel der deutschen Gesetzgebung betrachten, die Hoffnung, daß der Entwurf, über welchen demnächst der Reichstag zu beschließen haben wird, auch in anderen Beziehungen von einem anderen Geiste durchdrungen sein werde, als derjenige war, den wir in mannigfachen Bestimmungen der frühe¬ ren Entwürfe zu bemerken Gelegenheit fanden. Ohne Zweifel hat zu diesem Resultat und zu dieser Hoffnung die feste Haltung der sämmtlichen Liberalen Süddeutschlands und die darauf fußende Erklärung der baierischen und würtembergischen und vielleicht überhaupt der süddeutschen Bundesbevollmächtigten das Wesentlichste beigetragen, während — wir mögen diesen Vorwurf als einen wohlbegründeten hier nicht unter¬ drücken — die große Zahl der norddeutschen Liberalen die weittragende ja enorm politische Bedeutung der Strafproceßordnung und insbesondere der Geschwornengerichte kaum ins Auge zu fassen, geschweige denn vollkommen zu würdigen schien. Vielleicht aber gebührt auch ein nicht unbedeutender Antheil an der Erhaltung des Geschwornengerichts der in der Anmerkung genannten Arbeit Gneist's: wenigstens ist dieselbe kurz vor dem Bekanntwerden der Beschlüsse des Bundesraths erschienen, und es läßt sich leicht ermessen, welche Bedeutung es für diese Beschlüsse haben mußte, wenn gerade die Autorität Gu el se's eine unumwundene fast vollständige Verurtheilung der Grund¬ lagen der bisherigen Entwürfe ausspricht. Die Gefahr einer Verdrängung des Geschwornengerichts durch das Schöffengericht ist wie bemerkt jetzt überwunden, und dem Fachmanne hier wesentlich Neues zu sagen, war nach der eingehenden und langdauernden Po¬ lemik der auf beiden Seiten engagirten Theoretiker und Praktiker kaum möglich. Aber den im Ganzen doch weniger orientirten Politikern kann mit Grund ") Mit besonderer Rücksicht auf Rudolph Gneist: Vier Fragen einer deutschen Straf¬ proceßordnung mit einem Schlußwort über die Schöffengerichte. Berlin, 1S74, Julius Springer. Grenzboten it. 1874. 3

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_131175
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_131175/25
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_131175/25>, abgerufen am 07.05.2024.