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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. II. Band.

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bemißt, und gerade den unteren Ständen gegenüber, die jetzt so leicht zur
Beschwerde sich veranlaßt fühlen mögen, ist diese Erwägung von besonderer
Bedeutung.

Der Unterzeichnete stimmt hier durchaus mit Gneist überein. und hat
dies in einer Kritik des ersten Entwurfs der deutschen Strafproceßordnung
bereits ausgesprochen: im Einzelnen der Technik haben die Entwürfe vieles
Gute, zuweilen Vorzügliches geleistet; überall, wo sie die großen Fragen des
öffentlichen Rechts im eigentlichen Sinne berühren, sind sie ungenügend, der
politischen Entwickelung unseres Volkes nicht entsprechend. Vielleicht ist darin
den technischen Comissionen kein großer Vorwurf zu machen. Aber die
Frage ist nicht ganz zurückzuweisen, ob nicht gerade jener Umstand auf einen
Mangel unserer gegenwärtigen Reichsorganisation hindeutet, darauf nämlich,
daß es fehlt an einer bestimmten Persönlichkett, die auch schon bei der Vor¬
bereitung derartiger umfassender Gesetzentwürfe dem Reichstage und dem
deutschen Volke gegenüber eine wirkliche volle moralische Verantwortlichkeit
t L. v. Bar. rüge.




pariser Unter.

Der aufmerksame Beobachter wird überall, in welchen Himmelsstrich
ihn seine Wanderungen auch führen mögen, reichlich Gelegenheit finden, die
interessantesten und lehrreichsten Studien darüber anzustellen, unter wie ver-
schiedenen und mannigfaltigen Bedingungen, Formen und Verhältnissen das
einzelne menschliche Individuum wie ganze Gesellschaftsklassen existiren können
und müssen, wie demgemäß auch ihr Kulturzustand und ihre Leistungen sich
über den Nullpunkt emporheben oder unter denselben herabsinken. Wohl
bietet sich in dieser Richtung hin nicht leicht ein ergiebigeres Beobachtungs¬
feld dar als unsere täglich kolossalere Dimensionen annehmenden europäischen
Großstädte, wie London, Paris, Berlin, Wien u. s. w. Natürlich sind unter
diesen die beiden ersten bei Weitem die bemerkenswerthesten. Während sich
jedoch in London durchweg der krasseste Gegensatz zwischen außerordentlicher
Wohlhabenheit und äußerstem Elend hervorthut, beobachten wir in Paris
zwischen diesen beiden Extremen eine reiche Stufenleiter des sozialen und Kul¬
turlebens. Nur gehen hier diese Abstufungen nicht, wie wohl häusig bei größeren
Städten, in strenger Folge vom Mittelpunkt den Vorstädten zu, sondern wir
stoßen oft auf einen so jähen Wechsel der Physiognomie, daß es uns im ersten


Gnnzboten II. 1874. 4

bemißt, und gerade den unteren Ständen gegenüber, die jetzt so leicht zur
Beschwerde sich veranlaßt fühlen mögen, ist diese Erwägung von besonderer
Bedeutung.

Der Unterzeichnete stimmt hier durchaus mit Gneist überein. und hat
dies in einer Kritik des ersten Entwurfs der deutschen Strafproceßordnung
bereits ausgesprochen: im Einzelnen der Technik haben die Entwürfe vieles
Gute, zuweilen Vorzügliches geleistet; überall, wo sie die großen Fragen des
öffentlichen Rechts im eigentlichen Sinne berühren, sind sie ungenügend, der
politischen Entwickelung unseres Volkes nicht entsprechend. Vielleicht ist darin
den technischen Comissionen kein großer Vorwurf zu machen. Aber die
Frage ist nicht ganz zurückzuweisen, ob nicht gerade jener Umstand auf einen
Mangel unserer gegenwärtigen Reichsorganisation hindeutet, darauf nämlich,
daß es fehlt an einer bestimmten Persönlichkett, die auch schon bei der Vor¬
bereitung derartiger umfassender Gesetzentwürfe dem Reichstage und dem
deutschen Volke gegenüber eine wirkliche volle moralische Verantwortlichkeit
t L. v. Bar. rüge.




pariser Unter.

Der aufmerksame Beobachter wird überall, in welchen Himmelsstrich
ihn seine Wanderungen auch führen mögen, reichlich Gelegenheit finden, die
interessantesten und lehrreichsten Studien darüber anzustellen, unter wie ver-
schiedenen und mannigfaltigen Bedingungen, Formen und Verhältnissen das
einzelne menschliche Individuum wie ganze Gesellschaftsklassen existiren können
und müssen, wie demgemäß auch ihr Kulturzustand und ihre Leistungen sich
über den Nullpunkt emporheben oder unter denselben herabsinken. Wohl
bietet sich in dieser Richtung hin nicht leicht ein ergiebigeres Beobachtungs¬
feld dar als unsere täglich kolossalere Dimensionen annehmenden europäischen
Großstädte, wie London, Paris, Berlin, Wien u. s. w. Natürlich sind unter
diesen die beiden ersten bei Weitem die bemerkenswerthesten. Während sich
jedoch in London durchweg der krasseste Gegensatz zwischen außerordentlicher
Wohlhabenheit und äußerstem Elend hervorthut, beobachten wir in Paris
zwischen diesen beiden Extremen eine reiche Stufenleiter des sozialen und Kul¬
turlebens. Nur gehen hier diese Abstufungen nicht, wie wohl häusig bei größeren
Städten, in strenger Folge vom Mittelpunkt den Vorstädten zu, sondern wir
stoßen oft auf einen so jähen Wechsel der Physiognomie, daß es uns im ersten


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[0033] bemißt, und gerade den unteren Ständen gegenüber, die jetzt so leicht zur Beschwerde sich veranlaßt fühlen mögen, ist diese Erwägung von besonderer Bedeutung. Der Unterzeichnete stimmt hier durchaus mit Gneist überein. und hat dies in einer Kritik des ersten Entwurfs der deutschen Strafproceßordnung bereits ausgesprochen: im Einzelnen der Technik haben die Entwürfe vieles Gute, zuweilen Vorzügliches geleistet; überall, wo sie die großen Fragen des öffentlichen Rechts im eigentlichen Sinne berühren, sind sie ungenügend, der politischen Entwickelung unseres Volkes nicht entsprechend. Vielleicht ist darin den technischen Comissionen kein großer Vorwurf zu machen. Aber die Frage ist nicht ganz zurückzuweisen, ob nicht gerade jener Umstand auf einen Mangel unserer gegenwärtigen Reichsorganisation hindeutet, darauf nämlich, daß es fehlt an einer bestimmten Persönlichkett, die auch schon bei der Vor¬ bereitung derartiger umfassender Gesetzentwürfe dem Reichstage und dem deutschen Volke gegenüber eine wirkliche volle moralische Verantwortlichkeit t L. v. Bar. rüge. pariser Unter. Der aufmerksame Beobachter wird überall, in welchen Himmelsstrich ihn seine Wanderungen auch führen mögen, reichlich Gelegenheit finden, die interessantesten und lehrreichsten Studien darüber anzustellen, unter wie ver- schiedenen und mannigfaltigen Bedingungen, Formen und Verhältnissen das einzelne menschliche Individuum wie ganze Gesellschaftsklassen existiren können und müssen, wie demgemäß auch ihr Kulturzustand und ihre Leistungen sich über den Nullpunkt emporheben oder unter denselben herabsinken. Wohl bietet sich in dieser Richtung hin nicht leicht ein ergiebigeres Beobachtungs¬ feld dar als unsere täglich kolossalere Dimensionen annehmenden europäischen Großstädte, wie London, Paris, Berlin, Wien u. s. w. Natürlich sind unter diesen die beiden ersten bei Weitem die bemerkenswerthesten. Während sich jedoch in London durchweg der krasseste Gegensatz zwischen außerordentlicher Wohlhabenheit und äußerstem Elend hervorthut, beobachten wir in Paris zwischen diesen beiden Extremen eine reiche Stufenleiter des sozialen und Kul¬ turlebens. Nur gehen hier diese Abstufungen nicht, wie wohl häusig bei größeren Städten, in strenger Folge vom Mittelpunkt den Vorstädten zu, sondern wir stoßen oft auf einen so jähen Wechsel der Physiognomie, daß es uns im ersten Gnnzboten II. 1874. 4

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_131175/33>, abgerufen am 07.05.2024.