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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band.

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In Petrarca's Hedächtnißfeier.^)

Am 16. Juni oder am 18. Juli d. I. ist ein halbes Jahrtausend verflossen
seit dem Tode Petrarca's, des zweiten der Zeit nach in dem großen italieni¬
schen Dichter-Dreigestirn, welches das vierzehnte Jahrhundert, eine Zeit wilder
Kämpfe, entsetzlicher Zerrüttung und tiefen Verfalles mit seinen hellen Strahlen
erleuchtet und wie der Vorbote eines neuen Weltalters die düsteren Nebel des
sinkenden Mittelalters durchbricht. Die Lebensquellen des Mittelalters waren
vertrocknet, seine schöpferische Kraft erstorben; die großen welterschütternden
und weltbeherrschenden Ideen, welche zu gewaltigen Mächten verkörpert, dem
Mittelalter sein universales, alle Besonderheiten der Nationalität, der Sprache,
der Sitte überwucherndes und einer gemeinsamen Denk- und Empfindungs¬
weise unterordnendes Gepräge verliehen hatten, waren erblaßt, der Glaube an
sie schwand mehr und mehr dahin. Das Schwert der weltlichen Universal¬
macht hatte sich abgestumpft im Kampfe mit der geistlichen Weltmacht, die,
um dem gewaltigen Gegner Widerstand zu leisten, selbst die lange unter¬
drückten individuellen Triebe auf dem Gebiete des Staats- und Völkerlebens
entfesselt, damit aber auch die Grundlagen ihrer eignen Weltherrschaft er¬
schüttert hatte. Der Papst hatte die ewige Stadt verlassen und sich ins Exil
begeben nach Avignon unter den drückenden Schutz des fränkischen Staats, zu
dem die kluge und folgerichtige Politik eines erblichen, auch seine Grundsätze
vom Vater auf den Sohn vererdenden, rücksichtslose Gewalt mit geschmeidiger
Feinheit und berechnendem Verstände paarenden Königthums einen Stein nach
dem andern herbeitrug. Das Kaiserthum hielt zwar noch an seinen weit¬
umfassenden Ansprüchen fest, aber es hatte seit Heinrich VII. selbst den
Glauben an sie verloren; die Würde des höchsten Amtes in der Christenheit
wurde den Nachfolgern der Ottonen und Hohenstaufen mehr und mehr ein
Mittel, um in einer gewaltigen Hausmacht ein neues Staatengebilde nach
dem Muster Frankreichs und Englands zu gründen. So waren die beiden
Säulen, auf denen die mittelalterliche Welt ruhte, morsch geworden, des Ver¬
trauens auf ihre Führer beraubt, wurde die abendländische Christenheit an
ihrem eignen Dasein, an ihrer Lebensfähigkeit irre.



") Petrarca. Von Ludwig Geiger. Leipzig, Verlag von Duncker K Humblot. 1^74.
Grenzboten lit. 1874, 11
In Petrarca's Hedächtnißfeier.^)

Am 16. Juni oder am 18. Juli d. I. ist ein halbes Jahrtausend verflossen
seit dem Tode Petrarca's, des zweiten der Zeit nach in dem großen italieni¬
schen Dichter-Dreigestirn, welches das vierzehnte Jahrhundert, eine Zeit wilder
Kämpfe, entsetzlicher Zerrüttung und tiefen Verfalles mit seinen hellen Strahlen
erleuchtet und wie der Vorbote eines neuen Weltalters die düsteren Nebel des
sinkenden Mittelalters durchbricht. Die Lebensquellen des Mittelalters waren
vertrocknet, seine schöpferische Kraft erstorben; die großen welterschütternden
und weltbeherrschenden Ideen, welche zu gewaltigen Mächten verkörpert, dem
Mittelalter sein universales, alle Besonderheiten der Nationalität, der Sprache,
der Sitte überwucherndes und einer gemeinsamen Denk- und Empfindungs¬
weise unterordnendes Gepräge verliehen hatten, waren erblaßt, der Glaube an
sie schwand mehr und mehr dahin. Das Schwert der weltlichen Universal¬
macht hatte sich abgestumpft im Kampfe mit der geistlichen Weltmacht, die,
um dem gewaltigen Gegner Widerstand zu leisten, selbst die lange unter¬
drückten individuellen Triebe auf dem Gebiete des Staats- und Völkerlebens
entfesselt, damit aber auch die Grundlagen ihrer eignen Weltherrschaft er¬
schüttert hatte. Der Papst hatte die ewige Stadt verlassen und sich ins Exil
begeben nach Avignon unter den drückenden Schutz des fränkischen Staats, zu
dem die kluge und folgerichtige Politik eines erblichen, auch seine Grundsätze
vom Vater auf den Sohn vererdenden, rücksichtslose Gewalt mit geschmeidiger
Feinheit und berechnendem Verstände paarenden Königthums einen Stein nach
dem andern herbeitrug. Das Kaiserthum hielt zwar noch an seinen weit¬
umfassenden Ansprüchen fest, aber es hatte seit Heinrich VII. selbst den
Glauben an sie verloren; die Würde des höchsten Amtes in der Christenheit
wurde den Nachfolgern der Ottonen und Hohenstaufen mehr und mehr ein
Mittel, um in einer gewaltigen Hausmacht ein neues Staatengebilde nach
dem Muster Frankreichs und Englands zu gründen. So waren die beiden
Säulen, auf denen die mittelalterliche Welt ruhte, morsch geworden, des Ver¬
trauens auf ihre Führer beraubt, wurde die abendländische Christenheit an
ihrem eignen Dasein, an ihrer Lebensfähigkeit irre.



") Petrarca. Von Ludwig Geiger. Leipzig, Verlag von Duncker K Humblot. 1^74.
Grenzboten lit. 1874, 11
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[0089] In Petrarca's Hedächtnißfeier.^) Am 16. Juni oder am 18. Juli d. I. ist ein halbes Jahrtausend verflossen seit dem Tode Petrarca's, des zweiten der Zeit nach in dem großen italieni¬ schen Dichter-Dreigestirn, welches das vierzehnte Jahrhundert, eine Zeit wilder Kämpfe, entsetzlicher Zerrüttung und tiefen Verfalles mit seinen hellen Strahlen erleuchtet und wie der Vorbote eines neuen Weltalters die düsteren Nebel des sinkenden Mittelalters durchbricht. Die Lebensquellen des Mittelalters waren vertrocknet, seine schöpferische Kraft erstorben; die großen welterschütternden und weltbeherrschenden Ideen, welche zu gewaltigen Mächten verkörpert, dem Mittelalter sein universales, alle Besonderheiten der Nationalität, der Sprache, der Sitte überwucherndes und einer gemeinsamen Denk- und Empfindungs¬ weise unterordnendes Gepräge verliehen hatten, waren erblaßt, der Glaube an sie schwand mehr und mehr dahin. Das Schwert der weltlichen Universal¬ macht hatte sich abgestumpft im Kampfe mit der geistlichen Weltmacht, die, um dem gewaltigen Gegner Widerstand zu leisten, selbst die lange unter¬ drückten individuellen Triebe auf dem Gebiete des Staats- und Völkerlebens entfesselt, damit aber auch die Grundlagen ihrer eignen Weltherrschaft er¬ schüttert hatte. Der Papst hatte die ewige Stadt verlassen und sich ins Exil begeben nach Avignon unter den drückenden Schutz des fränkischen Staats, zu dem die kluge und folgerichtige Politik eines erblichen, auch seine Grundsätze vom Vater auf den Sohn vererdenden, rücksichtslose Gewalt mit geschmeidiger Feinheit und berechnendem Verstände paarenden Königthums einen Stein nach dem andern herbeitrug. Das Kaiserthum hielt zwar noch an seinen weit¬ umfassenden Ansprüchen fest, aber es hatte seit Heinrich VII. selbst den Glauben an sie verloren; die Würde des höchsten Amtes in der Christenheit wurde den Nachfolgern der Ottonen und Hohenstaufen mehr und mehr ein Mittel, um in einer gewaltigen Hausmacht ein neues Staatengebilde nach dem Muster Frankreichs und Englands zu gründen. So waren die beiden Säulen, auf denen die mittelalterliche Welt ruhte, morsch geworden, des Ver¬ trauens auf ihre Führer beraubt, wurde die abendländische Christenheit an ihrem eignen Dasein, an ihrer Lebensfähigkeit irre. ") Petrarca. Von Ludwig Geiger. Leipzig, Verlag von Duncker K Humblot. 1^74. Grenzboten lit. 1874, 11

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359152/89>, abgerufen am 06.05.2024.