Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite
Vom deutschen Keichstag.

Wir gehen zunächst auf die letzte Novemberwoche zurück, um die erste
Lesung der beiden Prozeßordnungen nachzuholen.

Kaum minder wichtig als die Beschaffenheit ihres Richterstandes ist für
eine Nation die Gestaltung ihres Strafprozesses. Die Bedeutung des Straf¬
prozesses liegt keineswegs allein in der wirksamen Represston der Verletzung
des Gesetzes. Die Art, wie das Strafrecht zur Anwendung gebracht wird,
ist eines der ausschlaggebendsten Momente sür die Entwicklung der sittlichen
Darstellungen, für die Würdigung der Handlungen der Menschen überhaupt.
-- Die Probleme, deren neue, den Anforderungen der gesellschaftlichen Ent¬
wicklung entsprechende Lösung die gegenwärtige Strafprozeßordnung sich zum
Ziel setzen mußte, waren vornehmlich folgende drei:

1) die sachgemäße Betheiligung des Laienelementes an der Strafrechtspflege;

2) die Regelung oder Beseitigung des Jnstanzenzuges in der Straf¬
rechtspflege;

3) die Durchbildung oder Nichtdurchbildung der strafrechtlichen Verfolgung
zu einem Parteiprozeß.

Was den ersten Punkt betrifft, so war der erste Strafprozeßentwurf, wie
er aus dem preußischen Justizministerium an den Bundesrath gelangte, auf
die durchgehende Einführung der Schöffen, auf allen Stufen der Strafgerichte
und für alle Grade des Verbrechens basirt. Der Verfasser dieser Berichte ist
einer der überzeugtester Anhänger des Schöffengerichts in der vollständigen
Ausbildung, wie sie jener Entwurf, unter Beseitigung aller andern Formen
der Betheiligung des.Laienelementes an der Strafrechtspflege, erstrebte. Der
Verfasser dieser Briefe weiß aber sehr wohl, daß er die Redaction d. Bl.
in dieser Frage nicht auf seiner Seite hat.*) Es handelt sich indeß hier
vorzugsweise um historische Berichterstattung. Die Schöffengerichte wurden
im vergangenen Frühjahre aus dem Altar der Popularität geopfert, als die
Frage schwebte, ob die Friedensstärke des Heeres auf dem Budgetwege oder auf
dem Wege des dauernden Gesetzes festzustellen sei. Bekanntlich ist auch diese
Frage nicht zum reinen Austrag gekommen, weil dieselbe ihrerseits der
höchsten Frage der Gegenwart, dem Kampfe zwischen Kaiser und Papst unter¬
geordnet werden mußte. Wir tadeln beide Unterordnungen nicht im min-



") Die Gegnerschaft der Redaction dieses Blattes gegen die Schöffen ist nicht nur crimi-
nal politischen Gründen, sondern auch Gründen der praktischen Erfahrung entnommen, die der
Redacteur dieses Blattes in seiner Eigenschaft als sächsischer Rechtsanwalt zu sammeln in der
D. Red. Lage war.
Vom deutschen Keichstag.

Wir gehen zunächst auf die letzte Novemberwoche zurück, um die erste
Lesung der beiden Prozeßordnungen nachzuholen.

Kaum minder wichtig als die Beschaffenheit ihres Richterstandes ist für
eine Nation die Gestaltung ihres Strafprozesses. Die Bedeutung des Straf¬
prozesses liegt keineswegs allein in der wirksamen Represston der Verletzung
des Gesetzes. Die Art, wie das Strafrecht zur Anwendung gebracht wird,
ist eines der ausschlaggebendsten Momente sür die Entwicklung der sittlichen
Darstellungen, für die Würdigung der Handlungen der Menschen überhaupt.
— Die Probleme, deren neue, den Anforderungen der gesellschaftlichen Ent¬
wicklung entsprechende Lösung die gegenwärtige Strafprozeßordnung sich zum
Ziel setzen mußte, waren vornehmlich folgende drei:

1) die sachgemäße Betheiligung des Laienelementes an der Strafrechtspflege;

2) die Regelung oder Beseitigung des Jnstanzenzuges in der Straf¬
rechtspflege;

3) die Durchbildung oder Nichtdurchbildung der strafrechtlichen Verfolgung
zu einem Parteiprozeß.

Was den ersten Punkt betrifft, so war der erste Strafprozeßentwurf, wie
er aus dem preußischen Justizministerium an den Bundesrath gelangte, auf
die durchgehende Einführung der Schöffen, auf allen Stufen der Strafgerichte
und für alle Grade des Verbrechens basirt. Der Verfasser dieser Berichte ist
einer der überzeugtester Anhänger des Schöffengerichts in der vollständigen
Ausbildung, wie sie jener Entwurf, unter Beseitigung aller andern Formen
der Betheiligung des.Laienelementes an der Strafrechtspflege, erstrebte. Der
Verfasser dieser Briefe weiß aber sehr wohl, daß er die Redaction d. Bl.
in dieser Frage nicht auf seiner Seite hat.*) Es handelt sich indeß hier
vorzugsweise um historische Berichterstattung. Die Schöffengerichte wurden
im vergangenen Frühjahre aus dem Altar der Popularität geopfert, als die
Frage schwebte, ob die Friedensstärke des Heeres auf dem Budgetwege oder auf
dem Wege des dauernden Gesetzes festzustellen sei. Bekanntlich ist auch diese
Frage nicht zum reinen Austrag gekommen, weil dieselbe ihrerseits der
höchsten Frage der Gegenwart, dem Kampfe zwischen Kaiser und Papst unter¬
geordnet werden mußte. Wir tadeln beide Unterordnungen nicht im min-



") Die Gegnerschaft der Redaction dieses Blattes gegen die Schöffen ist nicht nur crimi-
nal politischen Gründen, sondern auch Gründen der praktischen Erfahrung entnommen, die der
Redacteur dieses Blattes in seiner Eigenschaft als sächsischer Rechtsanwalt zu sammeln in der
D. Red. Lage war.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0430" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/132652"/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Vom deutschen Keichstag.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_1253"> Wir gehen zunächst auf die letzte Novemberwoche zurück, um die erste<lb/>
Lesung der beiden Prozeßordnungen nachzuholen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1254"> Kaum minder wichtig als die Beschaffenheit ihres Richterstandes ist für<lb/>
eine Nation die Gestaltung ihres Strafprozesses. Die Bedeutung des Straf¬<lb/>
prozesses liegt keineswegs allein in der wirksamen Represston der Verletzung<lb/>
des Gesetzes. Die Art, wie das Strafrecht zur Anwendung gebracht wird,<lb/>
ist eines der ausschlaggebendsten Momente sür die Entwicklung der sittlichen<lb/>
Darstellungen, für die Würdigung der Handlungen der Menschen überhaupt.<lb/>
&#x2014; Die Probleme, deren neue, den Anforderungen der gesellschaftlichen Ent¬<lb/>
wicklung entsprechende Lösung die gegenwärtige Strafprozeßordnung sich zum<lb/>
Ziel setzen mußte, waren vornehmlich folgende drei:</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1255"> 1) die sachgemäße Betheiligung des Laienelementes an der Strafrechtspflege;</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1256"> 2) die Regelung oder Beseitigung des Jnstanzenzuges in der Straf¬<lb/>
rechtspflege;</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1257"> 3) die Durchbildung oder Nichtdurchbildung der strafrechtlichen Verfolgung<lb/>
zu einem Parteiprozeß.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1258" next="#ID_1259"> Was den ersten Punkt betrifft, so war der erste Strafprozeßentwurf, wie<lb/>
er aus dem preußischen Justizministerium an den Bundesrath gelangte, auf<lb/>
die durchgehende Einführung der Schöffen, auf allen Stufen der Strafgerichte<lb/>
und für alle Grade des Verbrechens basirt. Der Verfasser dieser Berichte ist<lb/>
einer der überzeugtester Anhänger des Schöffengerichts in der vollständigen<lb/>
Ausbildung, wie sie jener Entwurf, unter Beseitigung aller andern Formen<lb/>
der Betheiligung des.Laienelementes an der Strafrechtspflege, erstrebte. Der<lb/>
Verfasser dieser Briefe weiß aber sehr wohl, daß er die Redaction d. Bl.<lb/>
in dieser Frage nicht auf seiner Seite hat.*) Es handelt sich indeß hier<lb/>
vorzugsweise um historische Berichterstattung. Die Schöffengerichte wurden<lb/>
im vergangenen Frühjahre aus dem Altar der Popularität geopfert, als die<lb/>
Frage schwebte, ob die Friedensstärke des Heeres auf dem Budgetwege oder auf<lb/>
dem Wege des dauernden Gesetzes festzustellen sei. Bekanntlich ist auch diese<lb/>
Frage nicht zum reinen Austrag gekommen, weil dieselbe ihrerseits der<lb/>
höchsten Frage der Gegenwart, dem Kampfe zwischen Kaiser und Papst unter¬<lb/>
geordnet werden mußte. Wir tadeln beide Unterordnungen nicht im min-</p><lb/>
          <note xml:id="FID_98" place="foot"> ") Die Gegnerschaft der Redaction dieses Blattes gegen die Schöffen ist nicht nur crimi-<lb/>
nal politischen Gründen, sondern auch Gründen der praktischen Erfahrung entnommen, die der<lb/>
Redacteur dieses Blattes in seiner Eigenschaft als sächsischer Rechtsanwalt zu sammeln in der<lb/><note type="byline"> D. Red.</note> Lage war. </note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0430] Vom deutschen Keichstag. Wir gehen zunächst auf die letzte Novemberwoche zurück, um die erste Lesung der beiden Prozeßordnungen nachzuholen. Kaum minder wichtig als die Beschaffenheit ihres Richterstandes ist für eine Nation die Gestaltung ihres Strafprozesses. Die Bedeutung des Straf¬ prozesses liegt keineswegs allein in der wirksamen Represston der Verletzung des Gesetzes. Die Art, wie das Strafrecht zur Anwendung gebracht wird, ist eines der ausschlaggebendsten Momente sür die Entwicklung der sittlichen Darstellungen, für die Würdigung der Handlungen der Menschen überhaupt. — Die Probleme, deren neue, den Anforderungen der gesellschaftlichen Ent¬ wicklung entsprechende Lösung die gegenwärtige Strafprozeßordnung sich zum Ziel setzen mußte, waren vornehmlich folgende drei: 1) die sachgemäße Betheiligung des Laienelementes an der Strafrechtspflege; 2) die Regelung oder Beseitigung des Jnstanzenzuges in der Straf¬ rechtspflege; 3) die Durchbildung oder Nichtdurchbildung der strafrechtlichen Verfolgung zu einem Parteiprozeß. Was den ersten Punkt betrifft, so war der erste Strafprozeßentwurf, wie er aus dem preußischen Justizministerium an den Bundesrath gelangte, auf die durchgehende Einführung der Schöffen, auf allen Stufen der Strafgerichte und für alle Grade des Verbrechens basirt. Der Verfasser dieser Berichte ist einer der überzeugtester Anhänger des Schöffengerichts in der vollständigen Ausbildung, wie sie jener Entwurf, unter Beseitigung aller andern Formen der Betheiligung des.Laienelementes an der Strafrechtspflege, erstrebte. Der Verfasser dieser Briefe weiß aber sehr wohl, daß er die Redaction d. Bl. in dieser Frage nicht auf seiner Seite hat.*) Es handelt sich indeß hier vorzugsweise um historische Berichterstattung. Die Schöffengerichte wurden im vergangenen Frühjahre aus dem Altar der Popularität geopfert, als die Frage schwebte, ob die Friedensstärke des Heeres auf dem Budgetwege oder auf dem Wege des dauernden Gesetzes festzustellen sei. Bekanntlich ist auch diese Frage nicht zum reinen Austrag gekommen, weil dieselbe ihrerseits der höchsten Frage der Gegenwart, dem Kampfe zwischen Kaiser und Papst unter¬ geordnet werden mußte. Wir tadeln beide Unterordnungen nicht im min- ") Die Gegnerschaft der Redaction dieses Blattes gegen die Schöffen ist nicht nur crimi- nal politischen Gründen, sondern auch Gründen der praktischen Erfahrung entnommen, die der Redacteur dieses Blattes in seiner Eigenschaft als sächsischer Rechtsanwalt zu sammeln in der D. Red. Lage war.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/430
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/430>, abgerufen am 19.05.2024.