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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band.

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Line sangreiche Landschaft in Mitteldeutschland.

Es ist eine weitverbreitete Meinung, daß eine wirkliche Volkspoesie nur
noch in einzelnen Strichen des südlichen Deutschland, namentlich im Alpen¬
gebiete, lebendig sei; sicher sucht man eine solche am wenigsten in den germa-
nisirten Mittelgebirgs - und Tieflandschaften des nordöstlichen Deutschland.
In der That sind diese ja dem alles nivellirenden Einfluß der Cultur ganz
anders ausgesetzt, als jene abgeschiedenen Hochlande des Südens. Und doch
ist diese Meinung eine nicht ganz gerechte. In einem wenig beachteten Winkel
des Hochplateaus, das sich an der Grenze Frankens und Böhmens von der
Saale nach der Elbe zieht, im Vogtlande, und namentlich im sächsischen
Theile desselben, blüht als bescheidene Pflanze eine recht kräftige Volks¬
dichtung. Auf den ersten Blick kann das befremden. Denn zwar gehört die
Landschaft nicht zu den besonders dicht bevölkerten Strichen, aber mehrere
große Verkehrswege, die jetzt längst in Schienenstraßen umgewandelt sind,
durchziehen sie in ihrer ganzen Ausdehnung, vor allem die alte Straße nach
dem "Reich," nach Nürnberg über Hof, und die große Linie nach Böhmen
über Eger. Nicht unbedeutend auch hat sich städtisches Wesen entwickelt;
neben einer Reihe kleiner Städte blühen Plauen, Reichenbach, Greiz durch
modernes Fabrikwesen von Jahr zu Jahr mehr auf. Aber auf der andern
Seite ist das Wachsthum dieser größeren Orte und die Industrie aller vogt-
ländischen Städte noch sehr jungen Datums; Plauen ist erst um die Mitte
des 13. Jahrhunderts zur civitas, zur Stadtgemeinde erhoben worden, denn
zuerst 1276 wird es als solche genannt, und sein Umfang war lange Zeit
sehr unbedeutend; das alte Greiz hat sich Jahrhunderte lang auf die wenigen
Gassen am Fuße des Schloßfelsens beschränkt und war so abhängig von der
Schloßherrschaft, daß noch die Statuten von 1337 die Gemeinde nicht nur
zu Abgaben, sondern auch zu Frohndiensten verpflichteten; in älterer Zeit
und bis in unser Jahrhundert hinein waren die vogtländischen Städte sämmt¬
lich sicher nichts als kleine Ackerstädte, wie die kleinsten es noch immer sind.
Auch jetzt noch ist die in den Städten heimisch gewordene Industrie nicht aufs
platte Land gewandert, wie es in Schlesien und der Ober-Lausitz z. B. häufig
geschehen ist; die vogtländischen Dörfer sind mit sehr wenigen Ausnahmen
reine Bauerndörfer geblieben. Noch ist auch der Einfluß der zahlreichen Rit¬
tergüter, die jetzt allerdings überwiegend bürgerlichen Besitzern gehören, auf
dem platten Lande sehr mächtig, kurz, das Land hat seinen ländlichen Cha¬
rakter behauptet bis in die Gegenwart, in früheren Jahrhunderten aber muß
die ganze Landschaft ganz überwiegend ein Bauernland gewesen sein, indem
stets der reiche Landadel dominirte, die Städte wenig bedeuteten.


Line sangreiche Landschaft in Mitteldeutschland.

Es ist eine weitverbreitete Meinung, daß eine wirkliche Volkspoesie nur
noch in einzelnen Strichen des südlichen Deutschland, namentlich im Alpen¬
gebiete, lebendig sei; sicher sucht man eine solche am wenigsten in den germa-
nisirten Mittelgebirgs - und Tieflandschaften des nordöstlichen Deutschland.
In der That sind diese ja dem alles nivellirenden Einfluß der Cultur ganz
anders ausgesetzt, als jene abgeschiedenen Hochlande des Südens. Und doch
ist diese Meinung eine nicht ganz gerechte. In einem wenig beachteten Winkel
des Hochplateaus, das sich an der Grenze Frankens und Böhmens von der
Saale nach der Elbe zieht, im Vogtlande, und namentlich im sächsischen
Theile desselben, blüht als bescheidene Pflanze eine recht kräftige Volks¬
dichtung. Auf den ersten Blick kann das befremden. Denn zwar gehört die
Landschaft nicht zu den besonders dicht bevölkerten Strichen, aber mehrere
große Verkehrswege, die jetzt längst in Schienenstraßen umgewandelt sind,
durchziehen sie in ihrer ganzen Ausdehnung, vor allem die alte Straße nach
dem „Reich," nach Nürnberg über Hof, und die große Linie nach Böhmen
über Eger. Nicht unbedeutend auch hat sich städtisches Wesen entwickelt;
neben einer Reihe kleiner Städte blühen Plauen, Reichenbach, Greiz durch
modernes Fabrikwesen von Jahr zu Jahr mehr auf. Aber auf der andern
Seite ist das Wachsthum dieser größeren Orte und die Industrie aller vogt-
ländischen Städte noch sehr jungen Datums; Plauen ist erst um die Mitte
des 13. Jahrhunderts zur civitas, zur Stadtgemeinde erhoben worden, denn
zuerst 1276 wird es als solche genannt, und sein Umfang war lange Zeit
sehr unbedeutend; das alte Greiz hat sich Jahrhunderte lang auf die wenigen
Gassen am Fuße des Schloßfelsens beschränkt und war so abhängig von der
Schloßherrschaft, daß noch die Statuten von 1337 die Gemeinde nicht nur
zu Abgaben, sondern auch zu Frohndiensten verpflichteten; in älterer Zeit
und bis in unser Jahrhundert hinein waren die vogtländischen Städte sämmt¬
lich sicher nichts als kleine Ackerstädte, wie die kleinsten es noch immer sind.
Auch jetzt noch ist die in den Städten heimisch gewordene Industrie nicht aufs
platte Land gewandert, wie es in Schlesien und der Ober-Lausitz z. B. häufig
geschehen ist; die vogtländischen Dörfer sind mit sehr wenigen Ausnahmen
reine Bauerndörfer geblieben. Noch ist auch der Einfluß der zahlreichen Rit¬
tergüter, die jetzt allerdings überwiegend bürgerlichen Besitzern gehören, auf
dem platten Lande sehr mächtig, kurz, das Land hat seinen ländlichen Cha¬
rakter behauptet bis in die Gegenwart, in früheren Jahrhunderten aber muß
die ganze Landschaft ganz überwiegend ein Bauernland gewesen sein, indem
stets der reiche Landadel dominirte, die Städte wenig bedeuteten.


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[0069] Line sangreiche Landschaft in Mitteldeutschland. Es ist eine weitverbreitete Meinung, daß eine wirkliche Volkspoesie nur noch in einzelnen Strichen des südlichen Deutschland, namentlich im Alpen¬ gebiete, lebendig sei; sicher sucht man eine solche am wenigsten in den germa- nisirten Mittelgebirgs - und Tieflandschaften des nordöstlichen Deutschland. In der That sind diese ja dem alles nivellirenden Einfluß der Cultur ganz anders ausgesetzt, als jene abgeschiedenen Hochlande des Südens. Und doch ist diese Meinung eine nicht ganz gerechte. In einem wenig beachteten Winkel des Hochplateaus, das sich an der Grenze Frankens und Böhmens von der Saale nach der Elbe zieht, im Vogtlande, und namentlich im sächsischen Theile desselben, blüht als bescheidene Pflanze eine recht kräftige Volks¬ dichtung. Auf den ersten Blick kann das befremden. Denn zwar gehört die Landschaft nicht zu den besonders dicht bevölkerten Strichen, aber mehrere große Verkehrswege, die jetzt längst in Schienenstraßen umgewandelt sind, durchziehen sie in ihrer ganzen Ausdehnung, vor allem die alte Straße nach dem „Reich," nach Nürnberg über Hof, und die große Linie nach Böhmen über Eger. Nicht unbedeutend auch hat sich städtisches Wesen entwickelt; neben einer Reihe kleiner Städte blühen Plauen, Reichenbach, Greiz durch modernes Fabrikwesen von Jahr zu Jahr mehr auf. Aber auf der andern Seite ist das Wachsthum dieser größeren Orte und die Industrie aller vogt- ländischen Städte noch sehr jungen Datums; Plauen ist erst um die Mitte des 13. Jahrhunderts zur civitas, zur Stadtgemeinde erhoben worden, denn zuerst 1276 wird es als solche genannt, und sein Umfang war lange Zeit sehr unbedeutend; das alte Greiz hat sich Jahrhunderte lang auf die wenigen Gassen am Fuße des Schloßfelsens beschränkt und war so abhängig von der Schloßherrschaft, daß noch die Statuten von 1337 die Gemeinde nicht nur zu Abgaben, sondern auch zu Frohndiensten verpflichteten; in älterer Zeit und bis in unser Jahrhundert hinein waren die vogtländischen Städte sämmt¬ lich sicher nichts als kleine Ackerstädte, wie die kleinsten es noch immer sind. Auch jetzt noch ist die in den Städten heimisch gewordene Industrie nicht aufs platte Land gewandert, wie es in Schlesien und der Ober-Lausitz z. B. häufig geschehen ist; die vogtländischen Dörfer sind mit sehr wenigen Ausnahmen reine Bauerndörfer geblieben. Noch ist auch der Einfluß der zahlreichen Rit¬ tergüter, die jetzt allerdings überwiegend bürgerlichen Besitzern gehören, auf dem platten Lande sehr mächtig, kurz, das Land hat seinen ländlichen Cha¬ rakter behauptet bis in die Gegenwart, in früheren Jahrhunderten aber muß die ganze Landschaft ganz überwiegend ein Bauernland gewesen sein, indem stets der reiche Landadel dominirte, die Städte wenig bedeuteten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/69>, abgerufen am 06.05.2024.