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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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Aas eherne Loljngesetz und die Staatsproduction.

Das von Ricardo nachgewiesene, sogenannte eherne Lohngesetz bildet be¬
kanntlich die Scheidelinie zwischen den alten volkswirtschaftlichen Schulen
und den Schulen des modernen Socialismus.

Der Socialismus behauptet, die Wirkungen jenes Gesetzes aufheben zu
können durch die Staatsproduction, welche nicht Arbeitslohn, sondern den
gesammten Arbeitsertrag an die Arbeiter vertheilen soll.

Die Gegner des Socialismus schlagen zweierlei Wege ein. Entweder sie
behaupten -- ohne freilich zureichende Beweise vorbringen zu können --
Ricardo habe Unrecht. Oder sie bestreiten die Möglichkeit der Staatsproduc¬
tion aus psychologischen oder staatsphilosophischen Gründen.

Aber bei keinem socialistischen oder antisoeialtstischen Schriftsteller habe
ich bis heute Antwort auf die einfache und sehr nahe liegende Frage gefunden:
Warum schließen sich beide Größen -- Lohngesetz und Staatsproduction --
nothwendig gegenseitig aus?

Den Nachweis zu liefern, daß sie sich nicht ausschließen, daß die Staats¬
production dem Nicardo'schen Satze nicht das Mindeste zu Leide thun würde,
ist der Zweck dieser Zeilen.

Um auch für den Leser deutlich zu sein, dem volkswirthschaftliche Streit¬
fragen nicht geläufig sind, muß ich einige principiell erläuternde Anmerkungen
vorausschicken.

Ricardo lehrt ungefähr: der Arbeitslohn hat die Tendenz, nicht mehr
als den nothdürftigen, landesüblichen Lebensunterhalt des Arbeiters zu decken.
Der Lohn richtet sich nach Angebot und Nachfrage und seine Wesenheit ist
deshalb insoweit identisch mit der Wesenheit der leblosen Waare. Ist die
Frage nach einer Waare größer oder kleiner, als das Angebot, so steigt oder
fällt ihr Preis. Es vermehrt oder vermindert sich die Erzeugung der Waare
so lange, bis ihr Preis die Nähe der Erzeugungskosten erreicht hat. Ganz
gleich beim Arbeitslohn. Steigt oder fällt derselbe über, bez. unter das
Niveau des nothdürftigen, landesüblichen Lebensunterhalts je nach Angebot
und Nachfrage, so mehren oder mindern sich die Arbeiterehen; es mehrt oder
mindert sich die Bevölkerung und damit die menschliche Arbeitskraft so lange,
bis der Arbeitslohn wieder in die Nähe jenes Niveau angekommen ist. So¬
weit Ricardo.

Allein der Siamesische Zwtllingsbruder der zu leistenden Arbeit ist die
bereits geleistete Arbeit, oder das Capital, d. h. hier der Vorschuß.

Ohne Vorschuß keine gesellschaftliche Productton. Ehe heute Waare er¬
zeugt werden kann, muß gestern Werkzeug. Rohstoff, der Unterhalt des Ar¬
beiters, kurz muß Vorschuß aufgespeichert worden sein.


Grenzboten III. 1875. S
Aas eherne Loljngesetz und die Staatsproduction.

Das von Ricardo nachgewiesene, sogenannte eherne Lohngesetz bildet be¬
kanntlich die Scheidelinie zwischen den alten volkswirtschaftlichen Schulen
und den Schulen des modernen Socialismus.

Der Socialismus behauptet, die Wirkungen jenes Gesetzes aufheben zu
können durch die Staatsproduction, welche nicht Arbeitslohn, sondern den
gesammten Arbeitsertrag an die Arbeiter vertheilen soll.

Die Gegner des Socialismus schlagen zweierlei Wege ein. Entweder sie
behaupten — ohne freilich zureichende Beweise vorbringen zu können —
Ricardo habe Unrecht. Oder sie bestreiten die Möglichkeit der Staatsproduc¬
tion aus psychologischen oder staatsphilosophischen Gründen.

Aber bei keinem socialistischen oder antisoeialtstischen Schriftsteller habe
ich bis heute Antwort auf die einfache und sehr nahe liegende Frage gefunden:
Warum schließen sich beide Größen — Lohngesetz und Staatsproduction —
nothwendig gegenseitig aus?

Den Nachweis zu liefern, daß sie sich nicht ausschließen, daß die Staats¬
production dem Nicardo'schen Satze nicht das Mindeste zu Leide thun würde,
ist der Zweck dieser Zeilen.

Um auch für den Leser deutlich zu sein, dem volkswirthschaftliche Streit¬
fragen nicht geläufig sind, muß ich einige principiell erläuternde Anmerkungen
vorausschicken.

Ricardo lehrt ungefähr: der Arbeitslohn hat die Tendenz, nicht mehr
als den nothdürftigen, landesüblichen Lebensunterhalt des Arbeiters zu decken.
Der Lohn richtet sich nach Angebot und Nachfrage und seine Wesenheit ist
deshalb insoweit identisch mit der Wesenheit der leblosen Waare. Ist die
Frage nach einer Waare größer oder kleiner, als das Angebot, so steigt oder
fällt ihr Preis. Es vermehrt oder vermindert sich die Erzeugung der Waare
so lange, bis ihr Preis die Nähe der Erzeugungskosten erreicht hat. Ganz
gleich beim Arbeitslohn. Steigt oder fällt derselbe über, bez. unter das
Niveau des nothdürftigen, landesüblichen Lebensunterhalts je nach Angebot
und Nachfrage, so mehren oder mindern sich die Arbeiterehen; es mehrt oder
mindert sich die Bevölkerung und damit die menschliche Arbeitskraft so lange,
bis der Arbeitslohn wieder in die Nähe jenes Niveau angekommen ist. So¬
weit Ricardo.

Allein der Siamesische Zwtllingsbruder der zu leistenden Arbeit ist die
bereits geleistete Arbeit, oder das Capital, d. h. hier der Vorschuß.

Ohne Vorschuß keine gesellschaftliche Productton. Ehe heute Waare er¬
zeugt werden kann, muß gestern Werkzeug. Rohstoff, der Unterhalt des Ar¬
beiters, kurz muß Vorschuß aufgespeichert worden sein.


Grenzboten III. 1875. S
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[0041] Aas eherne Loljngesetz und die Staatsproduction. Das von Ricardo nachgewiesene, sogenannte eherne Lohngesetz bildet be¬ kanntlich die Scheidelinie zwischen den alten volkswirtschaftlichen Schulen und den Schulen des modernen Socialismus. Der Socialismus behauptet, die Wirkungen jenes Gesetzes aufheben zu können durch die Staatsproduction, welche nicht Arbeitslohn, sondern den gesammten Arbeitsertrag an die Arbeiter vertheilen soll. Die Gegner des Socialismus schlagen zweierlei Wege ein. Entweder sie behaupten — ohne freilich zureichende Beweise vorbringen zu können — Ricardo habe Unrecht. Oder sie bestreiten die Möglichkeit der Staatsproduc¬ tion aus psychologischen oder staatsphilosophischen Gründen. Aber bei keinem socialistischen oder antisoeialtstischen Schriftsteller habe ich bis heute Antwort auf die einfache und sehr nahe liegende Frage gefunden: Warum schließen sich beide Größen — Lohngesetz und Staatsproduction — nothwendig gegenseitig aus? Den Nachweis zu liefern, daß sie sich nicht ausschließen, daß die Staats¬ production dem Nicardo'schen Satze nicht das Mindeste zu Leide thun würde, ist der Zweck dieser Zeilen. Um auch für den Leser deutlich zu sein, dem volkswirthschaftliche Streit¬ fragen nicht geläufig sind, muß ich einige principiell erläuternde Anmerkungen vorausschicken. Ricardo lehrt ungefähr: der Arbeitslohn hat die Tendenz, nicht mehr als den nothdürftigen, landesüblichen Lebensunterhalt des Arbeiters zu decken. Der Lohn richtet sich nach Angebot und Nachfrage und seine Wesenheit ist deshalb insoweit identisch mit der Wesenheit der leblosen Waare. Ist die Frage nach einer Waare größer oder kleiner, als das Angebot, so steigt oder fällt ihr Preis. Es vermehrt oder vermindert sich die Erzeugung der Waare so lange, bis ihr Preis die Nähe der Erzeugungskosten erreicht hat. Ganz gleich beim Arbeitslohn. Steigt oder fällt derselbe über, bez. unter das Niveau des nothdürftigen, landesüblichen Lebensunterhalts je nach Angebot und Nachfrage, so mehren oder mindern sich die Arbeiterehen; es mehrt oder mindert sich die Bevölkerung und damit die menschliche Arbeitskraft so lange, bis der Arbeitslohn wieder in die Nähe jenes Niveau angekommen ist. So¬ weit Ricardo. Allein der Siamesische Zwtllingsbruder der zu leistenden Arbeit ist die bereits geleistete Arbeit, oder das Capital, d. h. hier der Vorschuß. Ohne Vorschuß keine gesellschaftliche Productton. Ehe heute Waare er¬ zeugt werden kann, muß gestern Werkzeug. Rohstoff, der Unterhalt des Ar¬ beiters, kurz muß Vorschuß aufgespeichert worden sein. Grenzboten III. 1875. S

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/41>, abgerufen am 05.05.2024.