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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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Briefe aus der AaiserstM.

Seit vierzehn Tagen stehen unsere parlamentarischen Gebäude verödet, die
Minister sind zur guten Hälfte auf Reisen, auch der hohe Bundesrath hat
der Reichshauptstadt soeben den Rücken gekehrt und nur die Justizconunisfiou
sucht in der kühlen Halle des Reichstagsfoyers, die kein Sonnenpfeil erreicht,
der erschlaffenden Sommergluth noch eine Weile zu trotzen, aber auch ihre
Mitglieder, voran die Söhne der süddeutschen Berge, harren bereits mit
Sehnsucht dem in. Juli entgegen, der sie dem Leben, der Menschlichkeit
zurückgeben soll. So ist also die todte Jahreszeit in aller Form angebrochen
und wer nur immer dazu im Stande ist, der packt seine Koffer und sucht
das Weite. Aber wie Wenigen unter dieser Million von Bewohnern Berlins
ist es beschieden, den ganzen Sommer in besserer Atmosphäre genießen zu
dürfen! Gar Viele sind froh, wenn sie dem ungeheuren Gefängniß nur auf
ein paar Wochen entrinnen und die unendliche Mehrzahl bleibt erbarmungs¬
los in seinem Raum eingeschlossen. Doch fügen wir gleich mit dem zur
klassischen Figur gewordenen Schließer in der "Fledermaus" hinzu! "'s ist
ein fideles Gefängniß!" Der Berliner hat wenig Neigung zur Melancholie.
Die Rinnsteinatmosphäre unserer Straßen kann an Tagen mit 26 -- 28 "R.
allerdings auch den hartgesottensten Phlegmatiker rasend machen; aber wozu
hätten wir denn unsere "herrliche Gegend!" In der That, die unmittelbare
Umgebung Berlins -- selbst von Potsdam, das schon entfernter gelegen,
ganz abgesehen -- ist keineswegs so reizlos, wie sie draußen im Reich und
in der ganzen Welt verschrieen ist. Spree und Havel mischen sich mit den
düstern Kieferwaldungen zu manchem überraschenden Landschaftsbilde. Auch
die Kunst hat ihre Schuldigkeit gethan; der "Thiergarten" ist ein mit Ge¬
schmack angelegter Wald und der prächtige Zustand, in welchem er trotz der
Ungunst des sterilen Sandbodens erhalten wird, macht seiner Verwaltung alle
Ehre. Der "Zoologische Garten" ferner und die "Flora" in Charlottenburg
sind herzerhebende Erholungsplätze, die letztere zumal entfaltet dermalen in
reichster Fülle den unbeschreiblichen Zauber, welchen die Königin der Blumen,
die Rose, zu allen Zeiten auf das menschliche Gemüth geübt hat. Fürwahr,
an solchen Punkten könnte wohl Mancher versucht sein, sich in die wonne¬
vollen Schauer gefühlsseliger Naturbetrachtung zu versenken, wenn er nicht
in jedem Augenblick an die brutale Wirklichkeit, an das fidele Gefängniß
erinnert würde. Da fliehe Einer z. B. in das düstere Dickicht des "Grüne-
walds" -- wo immer er ein lauschiges Plätzchen findet, da darf er auch sicher


Briefe aus der AaiserstM.

Seit vierzehn Tagen stehen unsere parlamentarischen Gebäude verödet, die
Minister sind zur guten Hälfte auf Reisen, auch der hohe Bundesrath hat
der Reichshauptstadt soeben den Rücken gekehrt und nur die Justizconunisfiou
sucht in der kühlen Halle des Reichstagsfoyers, die kein Sonnenpfeil erreicht,
der erschlaffenden Sommergluth noch eine Weile zu trotzen, aber auch ihre
Mitglieder, voran die Söhne der süddeutschen Berge, harren bereits mit
Sehnsucht dem in. Juli entgegen, der sie dem Leben, der Menschlichkeit
zurückgeben soll. So ist also die todte Jahreszeit in aller Form angebrochen
und wer nur immer dazu im Stande ist, der packt seine Koffer und sucht
das Weite. Aber wie Wenigen unter dieser Million von Bewohnern Berlins
ist es beschieden, den ganzen Sommer in besserer Atmosphäre genießen zu
dürfen! Gar Viele sind froh, wenn sie dem ungeheuren Gefängniß nur auf
ein paar Wochen entrinnen und die unendliche Mehrzahl bleibt erbarmungs¬
los in seinem Raum eingeschlossen. Doch fügen wir gleich mit dem zur
klassischen Figur gewordenen Schließer in der „Fledermaus" hinzu! „'s ist
ein fideles Gefängniß!" Der Berliner hat wenig Neigung zur Melancholie.
Die Rinnsteinatmosphäre unserer Straßen kann an Tagen mit 26 — 28 "R.
allerdings auch den hartgesottensten Phlegmatiker rasend machen; aber wozu
hätten wir denn unsere „herrliche Gegend!" In der That, die unmittelbare
Umgebung Berlins — selbst von Potsdam, das schon entfernter gelegen,
ganz abgesehen — ist keineswegs so reizlos, wie sie draußen im Reich und
in der ganzen Welt verschrieen ist. Spree und Havel mischen sich mit den
düstern Kieferwaldungen zu manchem überraschenden Landschaftsbilde. Auch
die Kunst hat ihre Schuldigkeit gethan; der „Thiergarten" ist ein mit Ge¬
schmack angelegter Wald und der prächtige Zustand, in welchem er trotz der
Ungunst des sterilen Sandbodens erhalten wird, macht seiner Verwaltung alle
Ehre. Der „Zoologische Garten" ferner und die „Flora" in Charlottenburg
sind herzerhebende Erholungsplätze, die letztere zumal entfaltet dermalen in
reichster Fülle den unbeschreiblichen Zauber, welchen die Königin der Blumen,
die Rose, zu allen Zeiten auf das menschliche Gemüth geübt hat. Fürwahr,
an solchen Punkten könnte wohl Mancher versucht sein, sich in die wonne¬
vollen Schauer gefühlsseliger Naturbetrachtung zu versenken, wenn er nicht
in jedem Augenblick an die brutale Wirklichkeit, an das fidele Gefängniß
erinnert würde. Da fliehe Einer z. B. in das düstere Dickicht des „Grüne-
walds" — wo immer er ein lauschiges Plätzchen findet, da darf er auch sicher


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[0044] Briefe aus der AaiserstM. Seit vierzehn Tagen stehen unsere parlamentarischen Gebäude verödet, die Minister sind zur guten Hälfte auf Reisen, auch der hohe Bundesrath hat der Reichshauptstadt soeben den Rücken gekehrt und nur die Justizconunisfiou sucht in der kühlen Halle des Reichstagsfoyers, die kein Sonnenpfeil erreicht, der erschlaffenden Sommergluth noch eine Weile zu trotzen, aber auch ihre Mitglieder, voran die Söhne der süddeutschen Berge, harren bereits mit Sehnsucht dem in. Juli entgegen, der sie dem Leben, der Menschlichkeit zurückgeben soll. So ist also die todte Jahreszeit in aller Form angebrochen und wer nur immer dazu im Stande ist, der packt seine Koffer und sucht das Weite. Aber wie Wenigen unter dieser Million von Bewohnern Berlins ist es beschieden, den ganzen Sommer in besserer Atmosphäre genießen zu dürfen! Gar Viele sind froh, wenn sie dem ungeheuren Gefängniß nur auf ein paar Wochen entrinnen und die unendliche Mehrzahl bleibt erbarmungs¬ los in seinem Raum eingeschlossen. Doch fügen wir gleich mit dem zur klassischen Figur gewordenen Schließer in der „Fledermaus" hinzu! „'s ist ein fideles Gefängniß!" Der Berliner hat wenig Neigung zur Melancholie. Die Rinnsteinatmosphäre unserer Straßen kann an Tagen mit 26 — 28 "R. allerdings auch den hartgesottensten Phlegmatiker rasend machen; aber wozu hätten wir denn unsere „herrliche Gegend!" In der That, die unmittelbare Umgebung Berlins — selbst von Potsdam, das schon entfernter gelegen, ganz abgesehen — ist keineswegs so reizlos, wie sie draußen im Reich und in der ganzen Welt verschrieen ist. Spree und Havel mischen sich mit den düstern Kieferwaldungen zu manchem überraschenden Landschaftsbilde. Auch die Kunst hat ihre Schuldigkeit gethan; der „Thiergarten" ist ein mit Ge¬ schmack angelegter Wald und der prächtige Zustand, in welchem er trotz der Ungunst des sterilen Sandbodens erhalten wird, macht seiner Verwaltung alle Ehre. Der „Zoologische Garten" ferner und die „Flora" in Charlottenburg sind herzerhebende Erholungsplätze, die letztere zumal entfaltet dermalen in reichster Fülle den unbeschreiblichen Zauber, welchen die Königin der Blumen, die Rose, zu allen Zeiten auf das menschliche Gemüth geübt hat. Fürwahr, an solchen Punkten könnte wohl Mancher versucht sein, sich in die wonne¬ vollen Schauer gefühlsseliger Naturbetrachtung zu versenken, wenn er nicht in jedem Augenblick an die brutale Wirklichkeit, an das fidele Gefängniß erinnert würde. Da fliehe Einer z. B. in das düstere Dickicht des „Grüne- walds" — wo immer er ein lauschiges Plätzchen findet, da darf er auch sicher

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/44>, abgerufen am 05.05.2024.