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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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Sitte neuerdings abgeschafft; hier kann es nur Einen Meister vom Stuhle
geben. --


3. "Falsch Gehör und Wort,"*) die Signatur des Fanatismus.

Unsere Zeit müßte eine gediegene Monographie über die welthistorische
Erscheinung des Fanatismus als ein Wort zu seiner Zeit begrüßen. Bor
allem wäre der Begriff des Fanatismus festzustellen: Vergötterung eines reli¬
giösen Mediums als des ausschließlichen Kreises der Gottesoffenbarung, welche
Alles außerhalb des Kreises liegende mindestens zum Profannen herabsetzt.
Jede junge Religionsform entwickelt sich allerdings meistens mit einem Acci-
dens von Fanatismus, allein von den gesunden Formen gilt das Wort:
"die Flamme reinigt sich vom Rauch." Wenn aber eine Religionsweise von
egoistischen Motiven zerfressen und zersetzt ist, so kann sich auch wieder eine
anfänglich schöne Flamme später in Rauch und Qualm auflösen. Die mi߬
liche Vermenschlichung der Religion in den Erscheinungen des Fanatismus
zeigt sich darin, daß jede Nationalität, Religion und Confession eine eigen¬
thümliche Art von Fanatismus hat. Doch bleibt sich derselbe in seinen Grund¬
zügen gleich, wie dieselben unverkennbar in dem Verhalten der Söhne Jacob's
gegen die Sichemiten (1. Mos. 34) hervortreten. Das treibende Motiv ist be¬
leidigter religiöser Stolz; die Erscheinung ihres Fanatismus schreitet von der
List und Lüge zur blutdürstigen Grausamkeit fort, und auch der Charakterzug
der Raubsucht hat sich hier schon eingestellt. Der Vater Jacob hat diese That
seiner Söhne Simeon und Levi gerichtet und verworfen, das apokrhphische
Buch Judith aber hat dieselbe gefeiert. Judith, die vorbildliche Erscheinung
des fanatischen Tyrannenmordes, war stolz darauf, eine Tochter des Vaters
Simeon zu sein, welcher die Rache des israelitischen Stolzes an den Heiden
vollzogen hatte.

Die vielfach verbreitete Vorstellung, das Alte Testament selber sei mit
dem Charakterzug des Fanatismus behaftet, beruht auf mehr als einem Vor¬
urtheil, besonders auch auf der Meinung, das nationale Judenthum sei mit
dem Geiste der Offenbarung, dessen Träger es war, identisch. Sogar der
jüdische Volkscharakter selbst war von Hause aus zu wahrheitsliebend, zu be¬
sonnen und zu human, als daß er in den Blüthezeiten seines Geistes die
Wege des Fanatismus hätte betreten können. Später wurde das ganz anders,
als die Pflege der israelitischen Religion dem Fanatismus verfallen war.

Giebt es ein zweites Volk, das so strenge gegen sich selbst gewesen wäre,
wie Israel in seinen Propheten, das sich selbst so strenge gerichtet hätte, da¬
gegen so hoffnungsreich geäußert über die Zukunft der Heiden? Es ist die



S. Goethe's Faust. 1. Theil.

Sitte neuerdings abgeschafft; hier kann es nur Einen Meister vom Stuhle
geben. —


3. „Falsch Gehör und Wort,"*) die Signatur des Fanatismus.

Unsere Zeit müßte eine gediegene Monographie über die welthistorische
Erscheinung des Fanatismus als ein Wort zu seiner Zeit begrüßen. Bor
allem wäre der Begriff des Fanatismus festzustellen: Vergötterung eines reli¬
giösen Mediums als des ausschließlichen Kreises der Gottesoffenbarung, welche
Alles außerhalb des Kreises liegende mindestens zum Profannen herabsetzt.
Jede junge Religionsform entwickelt sich allerdings meistens mit einem Acci-
dens von Fanatismus, allein von den gesunden Formen gilt das Wort:
„die Flamme reinigt sich vom Rauch." Wenn aber eine Religionsweise von
egoistischen Motiven zerfressen und zersetzt ist, so kann sich auch wieder eine
anfänglich schöne Flamme später in Rauch und Qualm auflösen. Die mi߬
liche Vermenschlichung der Religion in den Erscheinungen des Fanatismus
zeigt sich darin, daß jede Nationalität, Religion und Confession eine eigen¬
thümliche Art von Fanatismus hat. Doch bleibt sich derselbe in seinen Grund¬
zügen gleich, wie dieselben unverkennbar in dem Verhalten der Söhne Jacob's
gegen die Sichemiten (1. Mos. 34) hervortreten. Das treibende Motiv ist be¬
leidigter religiöser Stolz; die Erscheinung ihres Fanatismus schreitet von der
List und Lüge zur blutdürstigen Grausamkeit fort, und auch der Charakterzug
der Raubsucht hat sich hier schon eingestellt. Der Vater Jacob hat diese That
seiner Söhne Simeon und Levi gerichtet und verworfen, das apokrhphische
Buch Judith aber hat dieselbe gefeiert. Judith, die vorbildliche Erscheinung
des fanatischen Tyrannenmordes, war stolz darauf, eine Tochter des Vaters
Simeon zu sein, welcher die Rache des israelitischen Stolzes an den Heiden
vollzogen hatte.

Die vielfach verbreitete Vorstellung, das Alte Testament selber sei mit
dem Charakterzug des Fanatismus behaftet, beruht auf mehr als einem Vor¬
urtheil, besonders auch auf der Meinung, das nationale Judenthum sei mit
dem Geiste der Offenbarung, dessen Träger es war, identisch. Sogar der
jüdische Volkscharakter selbst war von Hause aus zu wahrheitsliebend, zu be¬
sonnen und zu human, als daß er in den Blüthezeiten seines Geistes die
Wege des Fanatismus hätte betreten können. Später wurde das ganz anders,
als die Pflege der israelitischen Religion dem Fanatismus verfallen war.

Giebt es ein zweites Volk, das so strenge gegen sich selbst gewesen wäre,
wie Israel in seinen Propheten, das sich selbst so strenge gerichtet hätte, da¬
gegen so hoffnungsreich geäußert über die Zukunft der Heiden? Es ist die



S. Goethe's Faust. 1. Theil.
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[0082] Sitte neuerdings abgeschafft; hier kann es nur Einen Meister vom Stuhle geben. — 3. „Falsch Gehör und Wort,"*) die Signatur des Fanatismus. Unsere Zeit müßte eine gediegene Monographie über die welthistorische Erscheinung des Fanatismus als ein Wort zu seiner Zeit begrüßen. Bor allem wäre der Begriff des Fanatismus festzustellen: Vergötterung eines reli¬ giösen Mediums als des ausschließlichen Kreises der Gottesoffenbarung, welche Alles außerhalb des Kreises liegende mindestens zum Profannen herabsetzt. Jede junge Religionsform entwickelt sich allerdings meistens mit einem Acci- dens von Fanatismus, allein von den gesunden Formen gilt das Wort: „die Flamme reinigt sich vom Rauch." Wenn aber eine Religionsweise von egoistischen Motiven zerfressen und zersetzt ist, so kann sich auch wieder eine anfänglich schöne Flamme später in Rauch und Qualm auflösen. Die mi߬ liche Vermenschlichung der Religion in den Erscheinungen des Fanatismus zeigt sich darin, daß jede Nationalität, Religion und Confession eine eigen¬ thümliche Art von Fanatismus hat. Doch bleibt sich derselbe in seinen Grund¬ zügen gleich, wie dieselben unverkennbar in dem Verhalten der Söhne Jacob's gegen die Sichemiten (1. Mos. 34) hervortreten. Das treibende Motiv ist be¬ leidigter religiöser Stolz; die Erscheinung ihres Fanatismus schreitet von der List und Lüge zur blutdürstigen Grausamkeit fort, und auch der Charakterzug der Raubsucht hat sich hier schon eingestellt. Der Vater Jacob hat diese That seiner Söhne Simeon und Levi gerichtet und verworfen, das apokrhphische Buch Judith aber hat dieselbe gefeiert. Judith, die vorbildliche Erscheinung des fanatischen Tyrannenmordes, war stolz darauf, eine Tochter des Vaters Simeon zu sein, welcher die Rache des israelitischen Stolzes an den Heiden vollzogen hatte. Die vielfach verbreitete Vorstellung, das Alte Testament selber sei mit dem Charakterzug des Fanatismus behaftet, beruht auf mehr als einem Vor¬ urtheil, besonders auch auf der Meinung, das nationale Judenthum sei mit dem Geiste der Offenbarung, dessen Träger es war, identisch. Sogar der jüdische Volkscharakter selbst war von Hause aus zu wahrheitsliebend, zu be¬ sonnen und zu human, als daß er in den Blüthezeiten seines Geistes die Wege des Fanatismus hätte betreten können. Später wurde das ganz anders, als die Pflege der israelitischen Religion dem Fanatismus verfallen war. Giebt es ein zweites Volk, das so strenge gegen sich selbst gewesen wäre, wie Israel in seinen Propheten, das sich selbst so strenge gerichtet hätte, da¬ gegen so hoffnungsreich geäußert über die Zukunft der Heiden? Es ist die S. Goethe's Faust. 1. Theil.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/82>, abgerufen am 05.05.2024.