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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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Inn M'dungsliamps unsrer Zeit.^)

Unser geistiges Leben ist in mannigfacher Gefahr. In den Fachwissen¬
schaften droht eine sehr bedenkliche Zersplitterung immer mehr einzureihen.
Schon scheint man anzunehmen, daß ein Historiker nicht mehr das Mittel¬
alter, die Neuzeit zu seinem Gebiet haben solle, sondern einer Stadt, einem
Fürstengeschlecht, einem Schriftsteller, sich ausschließlich widme und es wird
im Detail eine Masse Material herbeigeschafft, das allerdings schwer zu be¬
wältigen ist; und doch ist ein richtiges Urtheil über Perioden der Cultur
und über Nationen nur zu fällen, wenn man das Ganze im Auge hat. Nicht
anders ist es in der Naturgeschichte, in Physik und Chemie. Wenn neulich
Alfred Dove den Wunsch aussprach, daß Ranke uns noch mit einer Univer¬
salgeschichte beschenken möchte, so lag darin der Anfang einer Wendung zum
Bessern und das Verlangen nach Vorträgen und Schriften über die Natur im
Sinne von Humboldt's Kosmos wird auch bald laut werden. Man wird
einsehen, daß es nicht minder nothwendig und verdienstlich ist, Bausteine zu
einem Ganzen zu ordnen als sie aus der Erde zu brechen und zu beHauen,
daß es nicht minder wissenschaftlich ist, den Zusammenhang und die leitenden
Ideen in Natur und Geschichte zu erforschen und darzulegen, als das Beson¬
dere in seiner Eigenart zu ergründen. Ich habe es versucht das Ganze der
Culturentwickelung vom ästhetischen Standpunkt aus zu zeichnen, die bildenden
Künste sammt der Musik und Poesie im Hinblick vornehmlich auf die reli¬
giösen Stimmungen mit philosophischen Gedanken zu schildern; als ich das
wagte, wußte ich wohl, daß die gewöhnliche Meinung der Gelehrten es für
dilettantisch halten würde, allein ich höre nun doch mein Buch als zu¬
verlässig rühmen, und ich würde sehr dankbar sein, wenn ähnliche Werke aus
andern Gebieten mir eine Anschauung derselben erschlossen.

Eine andere Gefahr ist die sich immer mehr erweiternde Kluft zwischen
dem Theil des Volkes, das seine Geistesnahrung durch die Kirche erhält und
zwischen den Bekennern und Anhängern der modernen Bildung. Dort der
Wunderglaube und hier die Beförderung des Causalgesetzes, das alles Mira-
culöse ausschließt; dort das Heil an Formen und Formeln geknüpft, die hier
für falsch oder nichtssagend gelten; dort eine Geistlichkeit, die sich und ihre
Jünger von der Wissenschaft absondert und dieselbe bekämpft, wenigstens
verflucht, und hier dadurch eine Abwendung nicht bloß von dieser Verunstal¬
tung der Religion und des Christenthums, sondern von beiden selbst. Ginge
das so fort, so gäbe es bald zwei Schichten der Bevölkerung, die einander gar
nicht mehr verstünden.



Von Jürgen Vonci Meyer. Bonn bei Marcus 187S.
Inn M'dungsliamps unsrer Zeit.^)

Unser geistiges Leben ist in mannigfacher Gefahr. In den Fachwissen¬
schaften droht eine sehr bedenkliche Zersplitterung immer mehr einzureihen.
Schon scheint man anzunehmen, daß ein Historiker nicht mehr das Mittel¬
alter, die Neuzeit zu seinem Gebiet haben solle, sondern einer Stadt, einem
Fürstengeschlecht, einem Schriftsteller, sich ausschließlich widme und es wird
im Detail eine Masse Material herbeigeschafft, das allerdings schwer zu be¬
wältigen ist; und doch ist ein richtiges Urtheil über Perioden der Cultur
und über Nationen nur zu fällen, wenn man das Ganze im Auge hat. Nicht
anders ist es in der Naturgeschichte, in Physik und Chemie. Wenn neulich
Alfred Dove den Wunsch aussprach, daß Ranke uns noch mit einer Univer¬
salgeschichte beschenken möchte, so lag darin der Anfang einer Wendung zum
Bessern und das Verlangen nach Vorträgen und Schriften über die Natur im
Sinne von Humboldt's Kosmos wird auch bald laut werden. Man wird
einsehen, daß es nicht minder nothwendig und verdienstlich ist, Bausteine zu
einem Ganzen zu ordnen als sie aus der Erde zu brechen und zu beHauen,
daß es nicht minder wissenschaftlich ist, den Zusammenhang und die leitenden
Ideen in Natur und Geschichte zu erforschen und darzulegen, als das Beson¬
dere in seiner Eigenart zu ergründen. Ich habe es versucht das Ganze der
Culturentwickelung vom ästhetischen Standpunkt aus zu zeichnen, die bildenden
Künste sammt der Musik und Poesie im Hinblick vornehmlich auf die reli¬
giösen Stimmungen mit philosophischen Gedanken zu schildern; als ich das
wagte, wußte ich wohl, daß die gewöhnliche Meinung der Gelehrten es für
dilettantisch halten würde, allein ich höre nun doch mein Buch als zu¬
verlässig rühmen, und ich würde sehr dankbar sein, wenn ähnliche Werke aus
andern Gebieten mir eine Anschauung derselben erschlossen.

Eine andere Gefahr ist die sich immer mehr erweiternde Kluft zwischen
dem Theil des Volkes, das seine Geistesnahrung durch die Kirche erhält und
zwischen den Bekennern und Anhängern der modernen Bildung. Dort der
Wunderglaube und hier die Beförderung des Causalgesetzes, das alles Mira-
culöse ausschließt; dort das Heil an Formen und Formeln geknüpft, die hier
für falsch oder nichtssagend gelten; dort eine Geistlichkeit, die sich und ihre
Jünger von der Wissenschaft absondert und dieselbe bekämpft, wenigstens
verflucht, und hier dadurch eine Abwendung nicht bloß von dieser Verunstal¬
tung der Religion und des Christenthums, sondern von beiden selbst. Ginge
das so fort, so gäbe es bald zwei Schichten der Bevölkerung, die einander gar
nicht mehr verstünden.



Von Jürgen Vonci Meyer. Bonn bei Marcus 187S.
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[0192] Inn M'dungsliamps unsrer Zeit.^) Unser geistiges Leben ist in mannigfacher Gefahr. In den Fachwissen¬ schaften droht eine sehr bedenkliche Zersplitterung immer mehr einzureihen. Schon scheint man anzunehmen, daß ein Historiker nicht mehr das Mittel¬ alter, die Neuzeit zu seinem Gebiet haben solle, sondern einer Stadt, einem Fürstengeschlecht, einem Schriftsteller, sich ausschließlich widme und es wird im Detail eine Masse Material herbeigeschafft, das allerdings schwer zu be¬ wältigen ist; und doch ist ein richtiges Urtheil über Perioden der Cultur und über Nationen nur zu fällen, wenn man das Ganze im Auge hat. Nicht anders ist es in der Naturgeschichte, in Physik und Chemie. Wenn neulich Alfred Dove den Wunsch aussprach, daß Ranke uns noch mit einer Univer¬ salgeschichte beschenken möchte, so lag darin der Anfang einer Wendung zum Bessern und das Verlangen nach Vorträgen und Schriften über die Natur im Sinne von Humboldt's Kosmos wird auch bald laut werden. Man wird einsehen, daß es nicht minder nothwendig und verdienstlich ist, Bausteine zu einem Ganzen zu ordnen als sie aus der Erde zu brechen und zu beHauen, daß es nicht minder wissenschaftlich ist, den Zusammenhang und die leitenden Ideen in Natur und Geschichte zu erforschen und darzulegen, als das Beson¬ dere in seiner Eigenart zu ergründen. Ich habe es versucht das Ganze der Culturentwickelung vom ästhetischen Standpunkt aus zu zeichnen, die bildenden Künste sammt der Musik und Poesie im Hinblick vornehmlich auf die reli¬ giösen Stimmungen mit philosophischen Gedanken zu schildern; als ich das wagte, wußte ich wohl, daß die gewöhnliche Meinung der Gelehrten es für dilettantisch halten würde, allein ich höre nun doch mein Buch als zu¬ verlässig rühmen, und ich würde sehr dankbar sein, wenn ähnliche Werke aus andern Gebieten mir eine Anschauung derselben erschlossen. Eine andere Gefahr ist die sich immer mehr erweiternde Kluft zwischen dem Theil des Volkes, das seine Geistesnahrung durch die Kirche erhält und zwischen den Bekennern und Anhängern der modernen Bildung. Dort der Wunderglaube und hier die Beförderung des Causalgesetzes, das alles Mira- culöse ausschließt; dort das Heil an Formen und Formeln geknüpft, die hier für falsch oder nichtssagend gelten; dort eine Geistlichkeit, die sich und ihre Jünger von der Wissenschaft absondert und dieselbe bekämpft, wenigstens verflucht, und hier dadurch eine Abwendung nicht bloß von dieser Verunstal¬ tung der Religion und des Christenthums, sondern von beiden selbst. Ginge das so fort, so gäbe es bald zwei Schichten der Bevölkerung, die einander gar nicht mehr verstünden. Von Jürgen Vonci Meyer. Bonn bei Marcus 187S.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/192>, abgerufen am 04.05.2024.