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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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Hauer mit Recht -- stillt der Mensch so wenig durch Reichthum wie den leiblichen
Durst durch einen Trunk Seewasser; sein Durst nimmt zu je mehr er trinkt, statt
der Befriedigung neue Pein. -- Den Glücksdurst des Menschen vermag dauernd
nur ein Trunk aus dem reinen Quellwasser der Ideale menschlichen Gemüths und
menschlichen Geistes zu stillen. Nur wer an diese Quelle geht, aus diesem
Born schöpft, findet das höchste Glück, welches auf Erden die Menschen¬
seele genießen kann. Ein solcher Trunk labt und erfrischt die Seele, be¬
friedigt sie und wird doch, noch so oft genossen, wie das reine Quellwasser der
Mutter Erde, nie zum Ueberdruß. Hier auf diesem Boden des Ideals liegen
die unvergänglichen Güter der Menschheit, die reiche Erbschaft der Jahrtau¬
sende, die Jahrhundert um Jahrhundert ohne Abzug mehrt." Wenn man
diese Güter für Illusionen erklärt, dann ergibt sich der moderne Pessimis¬
mus als die nothwendige Folge, sagen wir grad heraus: als die nothwen¬
dige und heilsame Strafe. Denn wäre der Mensch nichts als ein Sinnen¬
wesen, dann wäre er das unvollkommenste und unglücklichste Thier, weil sich
in ihm Illusionen entwickelten, die ihm das Genügen am Irdischen und an
sich selber rauben, weil neben dem leiblichen Schmerz auch Seelenleiden
schwerster Art ihn heimsuchen; er sieht den Tod vor Augen, und betrauert
oder fürchtet den Verlust der Seinen. Von all dem sind die Thiere frei.
Indeß mir scheint es, daß gar Mancher den Pessimismus als Modesache mit¬
mache, und sich ganz wohl bei dem phrasenhaften Gebrauch der Sätze finde,
welche tiefere Gemüther aufgestellt. Gingen diese noch tiefer, so würden sie
den Menschen als ethisches Wesen erfassen, das die Liebe und der Schmerz
zugleich erziehen und zum Bewußtsein seiner idealen Bestimmung bringen.


M. Carriere.


Dom deutschen Ueichstag und vom preußischen
Landtag.

Am 19. Januar hat der Reichstag die Sitzungen nach den Weihnachts¬
ferien wieder aufgenommen. Den Hauptgegenstand der Verhandlungen hat
zunächst die Strafgesetznovelle gebildet, und zwar derjenige Theil derselben,
welcher zur Vorberathung an eine Commission überwiesen worden. Die zweite
Lesung dieses Theiles ist in dieser Woche noch nicht beendet worden, und ich


Hauer mit Recht — stillt der Mensch so wenig durch Reichthum wie den leiblichen
Durst durch einen Trunk Seewasser; sein Durst nimmt zu je mehr er trinkt, statt
der Befriedigung neue Pein. — Den Glücksdurst des Menschen vermag dauernd
nur ein Trunk aus dem reinen Quellwasser der Ideale menschlichen Gemüths und
menschlichen Geistes zu stillen. Nur wer an diese Quelle geht, aus diesem
Born schöpft, findet das höchste Glück, welches auf Erden die Menschen¬
seele genießen kann. Ein solcher Trunk labt und erfrischt die Seele, be¬
friedigt sie und wird doch, noch so oft genossen, wie das reine Quellwasser der
Mutter Erde, nie zum Ueberdruß. Hier auf diesem Boden des Ideals liegen
die unvergänglichen Güter der Menschheit, die reiche Erbschaft der Jahrtau¬
sende, die Jahrhundert um Jahrhundert ohne Abzug mehrt." Wenn man
diese Güter für Illusionen erklärt, dann ergibt sich der moderne Pessimis¬
mus als die nothwendige Folge, sagen wir grad heraus: als die nothwen¬
dige und heilsame Strafe. Denn wäre der Mensch nichts als ein Sinnen¬
wesen, dann wäre er das unvollkommenste und unglücklichste Thier, weil sich
in ihm Illusionen entwickelten, die ihm das Genügen am Irdischen und an
sich selber rauben, weil neben dem leiblichen Schmerz auch Seelenleiden
schwerster Art ihn heimsuchen; er sieht den Tod vor Augen, und betrauert
oder fürchtet den Verlust der Seinen. Von all dem sind die Thiere frei.
Indeß mir scheint es, daß gar Mancher den Pessimismus als Modesache mit¬
mache, und sich ganz wohl bei dem phrasenhaften Gebrauch der Sätze finde,
welche tiefere Gemüther aufgestellt. Gingen diese noch tiefer, so würden sie
den Menschen als ethisches Wesen erfassen, das die Liebe und der Schmerz
zugleich erziehen und zum Bewußtsein seiner idealen Bestimmung bringen.


M. Carriere.


Dom deutschen Ueichstag und vom preußischen
Landtag.

Am 19. Januar hat der Reichstag die Sitzungen nach den Weihnachts¬
ferien wieder aufgenommen. Den Hauptgegenstand der Verhandlungen hat
zunächst die Strafgesetznovelle gebildet, und zwar derjenige Theil derselben,
welcher zur Vorberathung an eine Commission überwiesen worden. Die zweite
Lesung dieses Theiles ist in dieser Woche noch nicht beendet worden, und ich


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[0196] Hauer mit Recht — stillt der Mensch so wenig durch Reichthum wie den leiblichen Durst durch einen Trunk Seewasser; sein Durst nimmt zu je mehr er trinkt, statt der Befriedigung neue Pein. — Den Glücksdurst des Menschen vermag dauernd nur ein Trunk aus dem reinen Quellwasser der Ideale menschlichen Gemüths und menschlichen Geistes zu stillen. Nur wer an diese Quelle geht, aus diesem Born schöpft, findet das höchste Glück, welches auf Erden die Menschen¬ seele genießen kann. Ein solcher Trunk labt und erfrischt die Seele, be¬ friedigt sie und wird doch, noch so oft genossen, wie das reine Quellwasser der Mutter Erde, nie zum Ueberdruß. Hier auf diesem Boden des Ideals liegen die unvergänglichen Güter der Menschheit, die reiche Erbschaft der Jahrtau¬ sende, die Jahrhundert um Jahrhundert ohne Abzug mehrt." Wenn man diese Güter für Illusionen erklärt, dann ergibt sich der moderne Pessimis¬ mus als die nothwendige Folge, sagen wir grad heraus: als die nothwen¬ dige und heilsame Strafe. Denn wäre der Mensch nichts als ein Sinnen¬ wesen, dann wäre er das unvollkommenste und unglücklichste Thier, weil sich in ihm Illusionen entwickelten, die ihm das Genügen am Irdischen und an sich selber rauben, weil neben dem leiblichen Schmerz auch Seelenleiden schwerster Art ihn heimsuchen; er sieht den Tod vor Augen, und betrauert oder fürchtet den Verlust der Seinen. Von all dem sind die Thiere frei. Indeß mir scheint es, daß gar Mancher den Pessimismus als Modesache mit¬ mache, und sich ganz wohl bei dem phrasenhaften Gebrauch der Sätze finde, welche tiefere Gemüther aufgestellt. Gingen diese noch tiefer, so würden sie den Menschen als ethisches Wesen erfassen, das die Liebe und der Schmerz zugleich erziehen und zum Bewußtsein seiner idealen Bestimmung bringen. M. Carriere. Dom deutschen Ueichstag und vom preußischen Landtag. Am 19. Januar hat der Reichstag die Sitzungen nach den Weihnachts¬ ferien wieder aufgenommen. Den Hauptgegenstand der Verhandlungen hat zunächst die Strafgesetznovelle gebildet, und zwar derjenige Theil derselben, welcher zur Vorberathung an eine Commission überwiesen worden. Die zweite Lesung dieses Theiles ist in dieser Woche noch nicht beendet worden, und ich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/196>, abgerufen am 04.05.2024.