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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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welche jenen Tylemann zum Verfasser haben und größtenteils Testamente von
limburger Bürgern und Bürgerinnen sind.


Deutsche Inschriften an Haus und Geräth. Zur epigrammatischen Volks¬
poesie. Zweite vermehrte Auflage. Berlin, Verlag von W. Hertz (Besser'sche Buch¬
handlung) 1875.

Ein recht dankenswertes Unternehmen. Die deutschen Haus- und Ge-
räthsinschriften treten als Volksepigramme dem Volksliede an die Seite und
sind ebenso interessantes Material für die Erkenntniß des nationalen Denkens
und Empfindens wie dieses, insbesondere aber auch eine ebenso werthvolle
Frucht dessen, was wir den Volkshumor nennen. In unsrer Zeit verschwindet
das, was das Volk der niedern Stände, der kleinen Städte und des platten
Landes von dem in den höheren Gesellschaftsklassen und in den Großstädten
unterscheidet, mit jedem Jahre mehr. Die Sage verläßt den Ort, das Märchen
das Haus, eine Menge von Sitten, Bräuchen und Meinungen sind im Aus¬
sterben. Nur selten noch wird ein Giebel oder Thorweg mit einem Spruch
geschmückt, und wo dies geschieht, ist's nicht die alte naive Ursprünglichkeit,
die ihn hinmalt oder einHaut. Umsomehr war es Zeit, zu sammeln, was
wir in allen diesen Beziehungen haben, um es, wenn es im Leben vergeht,
wenigstens in der Literatur fortzubesttzen. Die Sammlung ist hier aber auch
mit Takt und Geschmack vorgenommen worden, und wenn sie zwar reich ist,
aber manches Wohlbekannte, z. B. Grabschriften wie die des mecklenburgischen
Edelmanns, der den Teufel, welcher ihn wegen seiner Trunksucht holen könnte,
mit Hinweisung auf seinen Herrn Jesus Christ abweist, und die des Wechsels
an der leipziger Johanniskirche ignorirt, so wollen wir deshalb mit den
Sammlern nicht rechten, sondern uns freuen, daß sie viele andere gute Sachen
zusammengebracht haben. Wir geben aus ihrem Strauße eine kleine Blumen¬
lese, die am Besten für das kleine Buch sprechen wird, und zwar lösen wir
vorzüglich solche Sprüche heraus, die einen humoristischen Zug haben. Da
findet sich denn an einem Hause zu An bei Freiburg in Baden der Vers:


"Dies Haus ist mein und doch nicht mein,
Ich gehe aus, Du gehest ein.
Mein! wer wird wohl der Letzte sein?"

Da begegnen wir ferner zu Landeck in Tirol über einer Hausthür den
Zeilen -


"Dies Haus baut' ich nach meinem Sinn,
Doch kommt der Teufel und rafft mich hin.
Wenn der Tod so schmutzig wär'
Wie mancher Beamte,
So sah er nicht so mager her
Und hätt' eine größere Wampe."

welche jenen Tylemann zum Verfasser haben und größtenteils Testamente von
limburger Bürgern und Bürgerinnen sind.


Deutsche Inschriften an Haus und Geräth. Zur epigrammatischen Volks¬
poesie. Zweite vermehrte Auflage. Berlin, Verlag von W. Hertz (Besser'sche Buch¬
handlung) 1875.

Ein recht dankenswertes Unternehmen. Die deutschen Haus- und Ge-
räthsinschriften treten als Volksepigramme dem Volksliede an die Seite und
sind ebenso interessantes Material für die Erkenntniß des nationalen Denkens
und Empfindens wie dieses, insbesondere aber auch eine ebenso werthvolle
Frucht dessen, was wir den Volkshumor nennen. In unsrer Zeit verschwindet
das, was das Volk der niedern Stände, der kleinen Städte und des platten
Landes von dem in den höheren Gesellschaftsklassen und in den Großstädten
unterscheidet, mit jedem Jahre mehr. Die Sage verläßt den Ort, das Märchen
das Haus, eine Menge von Sitten, Bräuchen und Meinungen sind im Aus¬
sterben. Nur selten noch wird ein Giebel oder Thorweg mit einem Spruch
geschmückt, und wo dies geschieht, ist's nicht die alte naive Ursprünglichkeit,
die ihn hinmalt oder einHaut. Umsomehr war es Zeit, zu sammeln, was
wir in allen diesen Beziehungen haben, um es, wenn es im Leben vergeht,
wenigstens in der Literatur fortzubesttzen. Die Sammlung ist hier aber auch
mit Takt und Geschmack vorgenommen worden, und wenn sie zwar reich ist,
aber manches Wohlbekannte, z. B. Grabschriften wie die des mecklenburgischen
Edelmanns, der den Teufel, welcher ihn wegen seiner Trunksucht holen könnte,
mit Hinweisung auf seinen Herrn Jesus Christ abweist, und die des Wechsels
an der leipziger Johanniskirche ignorirt, so wollen wir deshalb mit den
Sammlern nicht rechten, sondern uns freuen, daß sie viele andere gute Sachen
zusammengebracht haben. Wir geben aus ihrem Strauße eine kleine Blumen¬
lese, die am Besten für das kleine Buch sprechen wird, und zwar lösen wir
vorzüglich solche Sprüche heraus, die einen humoristischen Zug haben. Da
findet sich denn an einem Hause zu An bei Freiburg in Baden der Vers:


„Dies Haus ist mein und doch nicht mein,
Ich gehe aus, Du gehest ein.
Mein! wer wird wohl der Letzte sein?"

Da begegnen wir ferner zu Landeck in Tirol über einer Hausthür den
Zeilen -


„Dies Haus baut' ich nach meinem Sinn,
Doch kommt der Teufel und rafft mich hin.
Wenn der Tod so schmutzig wär'
Wie mancher Beamte,
So sah er nicht so mager her
Und hätt' eine größere Wampe."

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[0525] welche jenen Tylemann zum Verfasser haben und größtenteils Testamente von limburger Bürgern und Bürgerinnen sind. Deutsche Inschriften an Haus und Geräth. Zur epigrammatischen Volks¬ poesie. Zweite vermehrte Auflage. Berlin, Verlag von W. Hertz (Besser'sche Buch¬ handlung) 1875. Ein recht dankenswertes Unternehmen. Die deutschen Haus- und Ge- räthsinschriften treten als Volksepigramme dem Volksliede an die Seite und sind ebenso interessantes Material für die Erkenntniß des nationalen Denkens und Empfindens wie dieses, insbesondere aber auch eine ebenso werthvolle Frucht dessen, was wir den Volkshumor nennen. In unsrer Zeit verschwindet das, was das Volk der niedern Stände, der kleinen Städte und des platten Landes von dem in den höheren Gesellschaftsklassen und in den Großstädten unterscheidet, mit jedem Jahre mehr. Die Sage verläßt den Ort, das Märchen das Haus, eine Menge von Sitten, Bräuchen und Meinungen sind im Aus¬ sterben. Nur selten noch wird ein Giebel oder Thorweg mit einem Spruch geschmückt, und wo dies geschieht, ist's nicht die alte naive Ursprünglichkeit, die ihn hinmalt oder einHaut. Umsomehr war es Zeit, zu sammeln, was wir in allen diesen Beziehungen haben, um es, wenn es im Leben vergeht, wenigstens in der Literatur fortzubesttzen. Die Sammlung ist hier aber auch mit Takt und Geschmack vorgenommen worden, und wenn sie zwar reich ist, aber manches Wohlbekannte, z. B. Grabschriften wie die des mecklenburgischen Edelmanns, der den Teufel, welcher ihn wegen seiner Trunksucht holen könnte, mit Hinweisung auf seinen Herrn Jesus Christ abweist, und die des Wechsels an der leipziger Johanniskirche ignorirt, so wollen wir deshalb mit den Sammlern nicht rechten, sondern uns freuen, daß sie viele andere gute Sachen zusammengebracht haben. Wir geben aus ihrem Strauße eine kleine Blumen¬ lese, die am Besten für das kleine Buch sprechen wird, und zwar lösen wir vorzüglich solche Sprüche heraus, die einen humoristischen Zug haben. Da findet sich denn an einem Hause zu An bei Freiburg in Baden der Vers: „Dies Haus ist mein und doch nicht mein, Ich gehe aus, Du gehest ein. Mein! wer wird wohl der Letzte sein?" Da begegnen wir ferner zu Landeck in Tirol über einer Hausthür den Zeilen - „Dies Haus baut' ich nach meinem Sinn, Doch kommt der Teufel und rafft mich hin. Wenn der Tod so schmutzig wär' Wie mancher Beamte, So sah er nicht so mager her Und hätt' eine größere Wampe."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/525>, abgerufen am 04.05.2024.