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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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daß unter 269 Gymnasialprogrammen nicht ein einziges ist, welches ein
kunstgeschichtliches Thema behandelte? daß, von moderner Kunstgeschichte
ganz zu schweigen, selbst die antike Kunst nur durch ihre Abwesenheit glänzt?
daß mit Ausnahme vielleicht des einzigen, daran streifenden, übrigens höchst
harmlosen Themas: "Einiges über Begriff und Wesen der Kunst", auch die
Aesthetik der bildenden Künste völlig unvertreten ist? Auch das ist kein
Zufall, auch das entspricht den thatsächlichen Verhältnissen.

Seit etwa zwei, drei Jahren sind uns plötzlich in Deutschland die Augen
aufgegangen über unsere grenzenlose Geschmacksverwilderung. Von allen
Seiten wird mit fieberhafter Hast gearbeitet, um vor allen Dingen unser
gänzlich darniederliegendes Kunstgewerbe etwas zu heben. Landesregierungen
und Gemeindevertretungen wetteifern in der Errichtung von Kunstgewerbe¬
schulen und Kunstgewerbemuseen, begeisterte Privaten treten zusammen und
veranstalten Ausstellungen älterer mustergiltiger kunstgewerblicher Erzeugnisse,
der Buch- und Kunsthandel wirkt durch treffliche Publicationen in gleichem Sinne,
schon raffen einzelne Gewerbtreibende sich auf und brechen mit dem hergebrachten
Ungeschmack. Aber wer sorgt für die ästhetische Bildung des Publikums?
wer sorgt, daß das heranwachsende Geschlecht den angebahnten Reformen
das nöthige Verständniß entgegenbringe, daß es seine ästhetischen Ansprüche
steigern lerne? In dem Lehrplane auch unsrer höchsten Schulanstalten,
auch unsrer Gymnasien, hat die ästhetische Erziehung nirgends eine Stätte,
sie ist einzig und allein auf den gütigen Zufall angewiesen! Doch hiermit
haben wir einen Punkt berührt, der sich nicht beiläufig erörtern läßt. Viel¬
leicht kommen wir in der nächsten Zeit einmal eingehender in diesen Blättern
* ^ * darauf zurück.




"Fotttische Heheimbünde.

Das junge Polen. -- Der Sicherhcitsverein. -- Die Nihilisten.

Lange Jahre war es in Deutschland unumgänglich und unerläßlich, für
den gerechten und vollkommenen Liberalen, mit dem unglücklichen Polen zu
sympathisiren und mit wehmüthiger Theilnahme die Flüchtlinge zu unter¬
stützen, die sich von Zeit zu Zeit über unsre Grenzen hereinstahlen und, ge¬
heimnißvoll von Ort zu Ort befördert, endlich in Frankreich verschwanden,
von wo sie dann nicht selten, mit Aufträgen der in Paris sitzenden "National-


daß unter 269 Gymnasialprogrammen nicht ein einziges ist, welches ein
kunstgeschichtliches Thema behandelte? daß, von moderner Kunstgeschichte
ganz zu schweigen, selbst die antike Kunst nur durch ihre Abwesenheit glänzt?
daß mit Ausnahme vielleicht des einzigen, daran streifenden, übrigens höchst
harmlosen Themas: „Einiges über Begriff und Wesen der Kunst", auch die
Aesthetik der bildenden Künste völlig unvertreten ist? Auch das ist kein
Zufall, auch das entspricht den thatsächlichen Verhältnissen.

Seit etwa zwei, drei Jahren sind uns plötzlich in Deutschland die Augen
aufgegangen über unsere grenzenlose Geschmacksverwilderung. Von allen
Seiten wird mit fieberhafter Hast gearbeitet, um vor allen Dingen unser
gänzlich darniederliegendes Kunstgewerbe etwas zu heben. Landesregierungen
und Gemeindevertretungen wetteifern in der Errichtung von Kunstgewerbe¬
schulen und Kunstgewerbemuseen, begeisterte Privaten treten zusammen und
veranstalten Ausstellungen älterer mustergiltiger kunstgewerblicher Erzeugnisse,
der Buch- und Kunsthandel wirkt durch treffliche Publicationen in gleichem Sinne,
schon raffen einzelne Gewerbtreibende sich auf und brechen mit dem hergebrachten
Ungeschmack. Aber wer sorgt für die ästhetische Bildung des Publikums?
wer sorgt, daß das heranwachsende Geschlecht den angebahnten Reformen
das nöthige Verständniß entgegenbringe, daß es seine ästhetischen Ansprüche
steigern lerne? In dem Lehrplane auch unsrer höchsten Schulanstalten,
auch unsrer Gymnasien, hat die ästhetische Erziehung nirgends eine Stätte,
sie ist einzig und allein auf den gütigen Zufall angewiesen! Doch hiermit
haben wir einen Punkt berührt, der sich nicht beiläufig erörtern läßt. Viel¬
leicht kommen wir in der nächsten Zeit einmal eingehender in diesen Blättern
* ^ * darauf zurück.




"Fotttische Heheimbünde.

Das junge Polen. — Der Sicherhcitsverein. — Die Nihilisten.

Lange Jahre war es in Deutschland unumgänglich und unerläßlich, für
den gerechten und vollkommenen Liberalen, mit dem unglücklichen Polen zu
sympathisiren und mit wehmüthiger Theilnahme die Flüchtlinge zu unter¬
stützen, die sich von Zeit zu Zeit über unsre Grenzen hereinstahlen und, ge¬
heimnißvoll von Ort zu Ort befördert, endlich in Frankreich verschwanden,
von wo sie dann nicht selten, mit Aufträgen der in Paris sitzenden „National-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/71>, abgerufen am 04.05.2024.