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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

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bestimmende Macht zukommen kann, die der Philosophie nicht ebensogut und
noch besser innewohnte. Der Verfasser hat freilich mit einer sehr kühnen
Correctur des nach der ethischen Seite bekanntlich sehr unproductiven Hegel'schen
Systems den Willen als die ursprüngliche Totalität des Geistes statuirt
und demselben als theoretisches Organ die unmittelbare Erkenntniß oder den
Glauben zugeschrieben (S. 321), aber dieser Gedanke, der dem ethischen
Pathos des Verfassers alle Ehre macht, erscheint uns nicht blos nichts weniger
als Hegelisch, sondern auch viel schwieriger zu vollziehen als die Schleiermacher'sche
Lehre, indem uns ein "theoretisches Oigan" des Willensd. h. des praktischen
Vermögens wie ein philosophischer Widerspruch vorkommt.

(Schluß folgt.)




Aus einem bürgerlichen Hagebuche des 16. und 17. Jahr¬
hunderts.

Wie das sentimentale Tagebuch einer schönen Seele aus der Genieperiode
aussteht, oder aus der Zeit der Romantiker oder auch aus unsern Tagen,
das weiß man zur Genüge. Die schönen Seelen verstanden und verstehen sich
noch immer trefflich darauf, ihr eignes Denken und Empfinden zu beobachten,
jeden ihrer geistreichen Gedanken wie in der photographischen Camera auf¬
zufangen und festzuhalten, die leisesten Regungen ihres Herzens wie mit dem
Hörrohr zu belauschen, und nöthigenfalls beides, Gedanken und Empfindungen,
denn sie nicht von selber sich einstellen wollen, herbeizuquälen, geistreich zu
senken und empfindsam zu fühlen um jeden Preis, natürlich immer in der
süßen, schmeichelnden Hoffnung, das eine bewundernde Nachwelt alle diese
Abspiegelungen des lieben Ich dereinst -- gedruckt lesen werde. Wie das
Naive Tagebuch eines schlichten, einfältigen Menschen aus der guten alten Zeit
steh ausnimmt, daß dürste weniger bekannt sein. Zwar durchstöbert der
Historiker und der Culturhistoriker die "Begebenheiten" des abenteuernden
schlestschen Ritters Hans von Schweinichen, der Literarhistoriker kann die
Selbstbiographie des Götz von Berlichingen nicht ungelesen lassen, und der
Kunsthistoriker vertieft sich in die kleine Familienchronik und das Reisetage¬
buch Albrecht Dürer's; aber in weitere Kreise dringen diese Denkmäler unserer
Vergangenheit doch wohl nur vereinzelt.

So rechtfertigen sich vielleicht die nachfolgenden anspruchslosen Mit¬
theilungen aus dem Tagebuche einer Bürgersfamilie des 16. und 17. Jahr-


bestimmende Macht zukommen kann, die der Philosophie nicht ebensogut und
noch besser innewohnte. Der Verfasser hat freilich mit einer sehr kühnen
Correctur des nach der ethischen Seite bekanntlich sehr unproductiven Hegel'schen
Systems den Willen als die ursprüngliche Totalität des Geistes statuirt
und demselben als theoretisches Organ die unmittelbare Erkenntniß oder den
Glauben zugeschrieben (S. 321), aber dieser Gedanke, der dem ethischen
Pathos des Verfassers alle Ehre macht, erscheint uns nicht blos nichts weniger
als Hegelisch, sondern auch viel schwieriger zu vollziehen als die Schleiermacher'sche
Lehre, indem uns ein „theoretisches Oigan" des Willensd. h. des praktischen
Vermögens wie ein philosophischer Widerspruch vorkommt.

(Schluß folgt.)




Aus einem bürgerlichen Hagebuche des 16. und 17. Jahr¬
hunderts.

Wie das sentimentale Tagebuch einer schönen Seele aus der Genieperiode
aussteht, oder aus der Zeit der Romantiker oder auch aus unsern Tagen,
das weiß man zur Genüge. Die schönen Seelen verstanden und verstehen sich
noch immer trefflich darauf, ihr eignes Denken und Empfinden zu beobachten,
jeden ihrer geistreichen Gedanken wie in der photographischen Camera auf¬
zufangen und festzuhalten, die leisesten Regungen ihres Herzens wie mit dem
Hörrohr zu belauschen, und nöthigenfalls beides, Gedanken und Empfindungen,
denn sie nicht von selber sich einstellen wollen, herbeizuquälen, geistreich zu
senken und empfindsam zu fühlen um jeden Preis, natürlich immer in der
süßen, schmeichelnden Hoffnung, das eine bewundernde Nachwelt alle diese
Abspiegelungen des lieben Ich dereinst — gedruckt lesen werde. Wie das
Naive Tagebuch eines schlichten, einfältigen Menschen aus der guten alten Zeit
steh ausnimmt, daß dürste weniger bekannt sein. Zwar durchstöbert der
Historiker und der Culturhistoriker die „Begebenheiten" des abenteuernden
schlestschen Ritters Hans von Schweinichen, der Literarhistoriker kann die
Selbstbiographie des Götz von Berlichingen nicht ungelesen lassen, und der
Kunsthistoriker vertieft sich in die kleine Familienchronik und das Reisetage¬
buch Albrecht Dürer's; aber in weitere Kreise dringen diese Denkmäler unserer
Vergangenheit doch wohl nur vereinzelt.

So rechtfertigen sich vielleicht die nachfolgenden anspruchslosen Mit¬
theilungen aus dem Tagebuche einer Bürgersfamilie des 16. und 17. Jahr-


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[0215] bestimmende Macht zukommen kann, die der Philosophie nicht ebensogut und noch besser innewohnte. Der Verfasser hat freilich mit einer sehr kühnen Correctur des nach der ethischen Seite bekanntlich sehr unproductiven Hegel'schen Systems den Willen als die ursprüngliche Totalität des Geistes statuirt und demselben als theoretisches Organ die unmittelbare Erkenntniß oder den Glauben zugeschrieben (S. 321), aber dieser Gedanke, der dem ethischen Pathos des Verfassers alle Ehre macht, erscheint uns nicht blos nichts weniger als Hegelisch, sondern auch viel schwieriger zu vollziehen als die Schleiermacher'sche Lehre, indem uns ein „theoretisches Oigan" des Willensd. h. des praktischen Vermögens wie ein philosophischer Widerspruch vorkommt. (Schluß folgt.) Aus einem bürgerlichen Hagebuche des 16. und 17. Jahr¬ hunderts. Wie das sentimentale Tagebuch einer schönen Seele aus der Genieperiode aussteht, oder aus der Zeit der Romantiker oder auch aus unsern Tagen, das weiß man zur Genüge. Die schönen Seelen verstanden und verstehen sich noch immer trefflich darauf, ihr eignes Denken und Empfinden zu beobachten, jeden ihrer geistreichen Gedanken wie in der photographischen Camera auf¬ zufangen und festzuhalten, die leisesten Regungen ihres Herzens wie mit dem Hörrohr zu belauschen, und nöthigenfalls beides, Gedanken und Empfindungen, denn sie nicht von selber sich einstellen wollen, herbeizuquälen, geistreich zu senken und empfindsam zu fühlen um jeden Preis, natürlich immer in der süßen, schmeichelnden Hoffnung, das eine bewundernde Nachwelt alle diese Abspiegelungen des lieben Ich dereinst — gedruckt lesen werde. Wie das Naive Tagebuch eines schlichten, einfältigen Menschen aus der guten alten Zeit steh ausnimmt, daß dürste weniger bekannt sein. Zwar durchstöbert der Historiker und der Culturhistoriker die „Begebenheiten" des abenteuernden schlestschen Ritters Hans von Schweinichen, der Literarhistoriker kann die Selbstbiographie des Götz von Berlichingen nicht ungelesen lassen, und der Kunsthistoriker vertieft sich in die kleine Familienchronik und das Reisetage¬ buch Albrecht Dürer's; aber in weitere Kreise dringen diese Denkmäler unserer Vergangenheit doch wohl nur vereinzelt. So rechtfertigen sich vielleicht die nachfolgenden anspruchslosen Mit¬ theilungen aus dem Tagebuche einer Bürgersfamilie des 16. und 17. Jahr-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/215>, abgerufen am 07.05.2024.