Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

saures, oder des durch Bremerhaven so berüchtigt gewordenen Thomas oder
andrer Schurken denke, so will mir wenig gefallen dieses Bild von der spie¬
gelnden Seele. Es ist wissenschaftlich so werthlos, und poetisch so schön, wie
das sinnige Wort von Novalis: das Wasser ist das Auge der Natur. Aber
deshalb führt Wundt mit seinem poetischen Schluß uns vom wissenschaftlichen
Weg ab auf den ästhetisirenden. Grade im Hinblick auf die Schurkenseele
halte ich mit Lazarus dafür, daß die Seele eine freithätige Kraft sei. welche
in der Apperception die Eindrücke der Welt umbildend sich aneigne.
So wird die Anerkennung von Lazarus' Gesetz der Apperception beitragen,
die Vorstellung über die Seele selbst zu klären. Und in der gewonnenen
Zuversicht, daß die Seele eine freithätig appercipirende Kraft sei, wird man
sie gern als selbständiges Wesen anerkennen, auch wenn man, mit Kant zu
reden, "es in einer anderen, von der Materie verschiedenen, ob zwar mit ihr
verbundenen Substanz zu suchen hat."




Die Kanzel in der guten alten Zeit.
ii.

Das Predigtwesen war, als Luther auftrat, (vgl. zu dem Nächstfolgenden:
"Aus dem sechzehnten Jahrhundert" von Rob. Calinich, S. 67 ff.,
ein recht gutes Buch. s. Ur. 13 d. Bl. S. 613) in Deutschland sehr herab¬
gekommen. Die Ortsgeistlichen betraten die Kanzel nur in seltenen Fällen.
Die Prediger des Volkes waren fast nur die unwissenden Bettelmönche, und
diesen war es nicht um die Sittlichkeit zu thun, sondern um dogmatische
Zänkereien, Angriffe auf Ketzer. Empfehlung von Ablaßbriefen u. d. Alberne
Heiligen- und Wunderlegenden. Schimpfreden, häufig auch mehr oder minder
schmutzige Späße bildeten die Würze dazu, und die Sprache, in welcher diese
Mischung von Unsinn und Unfug vorgetragen wurde, war so ungehobelt
wie das Betragen dieser rüpelhaften geistlichen Strolche. Man warf in den
Predigten Fragen auf, wie die: Ob Gott auch sündigen könnte, wenn er
wollte? Ob er das wissen könne, was er nicht wisse? Ob es ihm möglich
sei. die menschliche Natur weiblichen Geschlechts anzunehmen, und dergleichen
Alfanzereien mehr. In der Osterzeit waren die Prädicanten am beliebtesten,
die nach den sauren Fastenwochen das Volk am Besten zum Lachen zu bringen
verstanden, wozu Witze dienen mußten, wie der folgende. Als Christus an
die Vorburg der Hölle kam, hatten zwei Teufel ihre langen Nasen als Riegel


saures, oder des durch Bremerhaven so berüchtigt gewordenen Thomas oder
andrer Schurken denke, so will mir wenig gefallen dieses Bild von der spie¬
gelnden Seele. Es ist wissenschaftlich so werthlos, und poetisch so schön, wie
das sinnige Wort von Novalis: das Wasser ist das Auge der Natur. Aber
deshalb führt Wundt mit seinem poetischen Schluß uns vom wissenschaftlichen
Weg ab auf den ästhetisirenden. Grade im Hinblick auf die Schurkenseele
halte ich mit Lazarus dafür, daß die Seele eine freithätige Kraft sei. welche
in der Apperception die Eindrücke der Welt umbildend sich aneigne.
So wird die Anerkennung von Lazarus' Gesetz der Apperception beitragen,
die Vorstellung über die Seele selbst zu klären. Und in der gewonnenen
Zuversicht, daß die Seele eine freithätig appercipirende Kraft sei, wird man
sie gern als selbständiges Wesen anerkennen, auch wenn man, mit Kant zu
reden, „es in einer anderen, von der Materie verschiedenen, ob zwar mit ihr
verbundenen Substanz zu suchen hat."




Die Kanzel in der guten alten Zeit.
ii.

Das Predigtwesen war, als Luther auftrat, (vgl. zu dem Nächstfolgenden:
„Aus dem sechzehnten Jahrhundert" von Rob. Calinich, S. 67 ff.,
ein recht gutes Buch. s. Ur. 13 d. Bl. S. 613) in Deutschland sehr herab¬
gekommen. Die Ortsgeistlichen betraten die Kanzel nur in seltenen Fällen.
Die Prediger des Volkes waren fast nur die unwissenden Bettelmönche, und
diesen war es nicht um die Sittlichkeit zu thun, sondern um dogmatische
Zänkereien, Angriffe auf Ketzer. Empfehlung von Ablaßbriefen u. d. Alberne
Heiligen- und Wunderlegenden. Schimpfreden, häufig auch mehr oder minder
schmutzige Späße bildeten die Würze dazu, und die Sprache, in welcher diese
Mischung von Unsinn und Unfug vorgetragen wurde, war so ungehobelt
wie das Betragen dieser rüpelhaften geistlichen Strolche. Man warf in den
Predigten Fragen auf, wie die: Ob Gott auch sündigen könnte, wenn er
wollte? Ob er das wissen könne, was er nicht wisse? Ob es ihm möglich
sei. die menschliche Natur weiblichen Geschlechts anzunehmen, und dergleichen
Alfanzereien mehr. In der Osterzeit waren die Prädicanten am beliebtesten,
die nach den sauren Fastenwochen das Volk am Besten zum Lachen zu bringen
verstanden, wozu Witze dienen mußten, wie der folgende. Als Christus an
die Vorburg der Hölle kam, hatten zwei Teufel ihre langen Nasen als Riegel


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0336" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/135917"/>
          <p xml:id="ID_1096" prev="#ID_1095"> saures, oder des durch Bremerhaven so berüchtigt gewordenen Thomas oder<lb/>
andrer Schurken denke, so will mir wenig gefallen dieses Bild von der spie¬<lb/>
gelnden Seele. Es ist wissenschaftlich so werthlos, und poetisch so schön, wie<lb/>
das sinnige Wort von Novalis: das Wasser ist das Auge der Natur. Aber<lb/>
deshalb führt Wundt mit seinem poetischen Schluß uns vom wissenschaftlichen<lb/>
Weg ab auf den ästhetisirenden. Grade im Hinblick auf die Schurkenseele<lb/>
halte ich mit Lazarus dafür, daß die Seele eine freithätige Kraft sei. welche<lb/>
in der Apperception die Eindrücke der Welt umbildend sich aneigne.<lb/>
So wird die Anerkennung von Lazarus' Gesetz der Apperception beitragen,<lb/>
die Vorstellung über die Seele selbst zu klären. Und in der gewonnenen<lb/>
Zuversicht, daß die Seele eine freithätig appercipirende Kraft sei, wird man<lb/>
sie gern als selbständiges Wesen anerkennen, auch wenn man, mit Kant zu<lb/>
reden, &#x201E;es in einer anderen, von der Materie verschiedenen, ob zwar mit ihr<lb/>
verbundenen Substanz zu suchen hat."</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Die Kanzel in der guten alten Zeit.<lb/>
ii.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_1097" next="#ID_1098"> Das Predigtwesen war, als Luther auftrat, (vgl. zu dem Nächstfolgenden:<lb/>
&#x201E;Aus dem sechzehnten Jahrhundert" von Rob. Calinich, S. 67 ff.,<lb/>
ein recht gutes Buch. s. Ur. 13 d. Bl. S. 613) in Deutschland sehr herab¬<lb/>
gekommen. Die Ortsgeistlichen betraten die Kanzel nur in seltenen Fällen.<lb/>
Die Prediger des Volkes waren fast nur die unwissenden Bettelmönche, und<lb/>
diesen war es nicht um die Sittlichkeit zu thun, sondern um dogmatische<lb/>
Zänkereien, Angriffe auf Ketzer. Empfehlung von Ablaßbriefen u. d. Alberne<lb/>
Heiligen- und Wunderlegenden. Schimpfreden, häufig auch mehr oder minder<lb/>
schmutzige Späße bildeten die Würze dazu, und die Sprache, in welcher diese<lb/>
Mischung von Unsinn und Unfug vorgetragen wurde, war so ungehobelt<lb/>
wie das Betragen dieser rüpelhaften geistlichen Strolche. Man warf in den<lb/>
Predigten Fragen auf, wie die: Ob Gott auch sündigen könnte, wenn er<lb/>
wollte? Ob er das wissen könne, was er nicht wisse? Ob es ihm möglich<lb/>
sei. die menschliche Natur weiblichen Geschlechts anzunehmen, und dergleichen<lb/>
Alfanzereien mehr. In der Osterzeit waren die Prädicanten am beliebtesten,<lb/>
die nach den sauren Fastenwochen das Volk am Besten zum Lachen zu bringen<lb/>
verstanden, wozu Witze dienen mußten, wie der folgende. Als Christus an<lb/>
die Vorburg der Hölle kam, hatten zwei Teufel ihre langen Nasen als Riegel</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0336] saures, oder des durch Bremerhaven so berüchtigt gewordenen Thomas oder andrer Schurken denke, so will mir wenig gefallen dieses Bild von der spie¬ gelnden Seele. Es ist wissenschaftlich so werthlos, und poetisch so schön, wie das sinnige Wort von Novalis: das Wasser ist das Auge der Natur. Aber deshalb führt Wundt mit seinem poetischen Schluß uns vom wissenschaftlichen Weg ab auf den ästhetisirenden. Grade im Hinblick auf die Schurkenseele halte ich mit Lazarus dafür, daß die Seele eine freithätige Kraft sei. welche in der Apperception die Eindrücke der Welt umbildend sich aneigne. So wird die Anerkennung von Lazarus' Gesetz der Apperception beitragen, die Vorstellung über die Seele selbst zu klären. Und in der gewonnenen Zuversicht, daß die Seele eine freithätig appercipirende Kraft sei, wird man sie gern als selbständiges Wesen anerkennen, auch wenn man, mit Kant zu reden, „es in einer anderen, von der Materie verschiedenen, ob zwar mit ihr verbundenen Substanz zu suchen hat." Die Kanzel in der guten alten Zeit. ii. Das Predigtwesen war, als Luther auftrat, (vgl. zu dem Nächstfolgenden: „Aus dem sechzehnten Jahrhundert" von Rob. Calinich, S. 67 ff., ein recht gutes Buch. s. Ur. 13 d. Bl. S. 613) in Deutschland sehr herab¬ gekommen. Die Ortsgeistlichen betraten die Kanzel nur in seltenen Fällen. Die Prediger des Volkes waren fast nur die unwissenden Bettelmönche, und diesen war es nicht um die Sittlichkeit zu thun, sondern um dogmatische Zänkereien, Angriffe auf Ketzer. Empfehlung von Ablaßbriefen u. d. Alberne Heiligen- und Wunderlegenden. Schimpfreden, häufig auch mehr oder minder schmutzige Späße bildeten die Würze dazu, und die Sprache, in welcher diese Mischung von Unsinn und Unfug vorgetragen wurde, war so ungehobelt wie das Betragen dieser rüpelhaften geistlichen Strolche. Man warf in den Predigten Fragen auf, wie die: Ob Gott auch sündigen könnte, wenn er wollte? Ob er das wissen könne, was er nicht wisse? Ob es ihm möglich sei. die menschliche Natur weiblichen Geschlechts anzunehmen, und dergleichen Alfanzereien mehr. In der Osterzeit waren die Prädicanten am beliebtesten, die nach den sauren Fastenwochen das Volk am Besten zum Lachen zu bringen verstanden, wozu Witze dienen mußten, wie der folgende. Als Christus an die Vorburg der Hölle kam, hatten zwei Teufel ihre langen Nasen als Riegel

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/336
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/336>, abgerufen am 07.05.2024.