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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band.

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kündigt wurde, daß die betreffende Hymne das Lieblingslied der Verstorbenen
gewesen sei und auf ihren Wunsch gesungen werden würde. Es wurde nicht
gebetet, auch gab es keine eigentliche Leichenrede, wohl aber sprachen die nettesten
der Brüder sowie die der Schwestern, desgleichen mehrere andere Shaker zur
Erinnerung an das fromme und pflichtgetreue Leben der Schwester Julia und
drückten ihre Liebe zu ihr aus. Ihre Stimmen zitterten, und die jüngern
Schwestern, die in der letzten Zeit viel um die Kranke gewesen waren, ließen
ihren Thränen freien Lauf. Alle, welche sprachen, hatten irgend einen besondern
Zug ihrer Frömmigkeit zu rühmen oder Zeugniß von der oder jener Aeußerung
ihres guten Herzens abzulegen. Einige, darunter auch der Aelteste der Kirchen¬
familie, welcher die Ceremonie leitete, lasen Verse vor, die sie zu ihrem An¬
denken gedichtet hatten. Sie erschienen bei allen diesen Kundgebungen wie
eine große Familie, als Verwandte durch Geburt, die eine Hingeschiedene
Schwester betrauerten. Abgesehen von unserm Freunde, dem Eider Fräser,
waren uns ihre Gesichter bis jetzt unbekannt gewesen, aber sie hatten für
uns alle etwas Interessantes von der runzeligen Stirn des neunzigjährigen
Greises, der ein halbes Jahrhundert in dem sinken Shakerdorfe verlebt hatte,
bis herab zu den vollen, mit Grübchen geschmückten Wangen der kleinen
Knaben und Mädchen, die als Waisenkinder zuletzt in die Gesellschaft aufge¬
nommen worden waren. Es waren vor Allem friedenvolle Gesichter, die
älteren davon trugen den Stempel der Disciplin, welche aufrecht erhält, während
sie Willen und Triebe unterwirft. Das weibliche Geschlecht bildete bei
Weitem die Mehrzahl, wie das auch in gottesdienstlichen Versammlungen
draußen in der Welt der Fall ist, und fast die Hälfte bestand aus Kindern
und jungen Mädchen, von denen noch nicht angenommen werden konnte, daß
sie für alle Zeit "ihr Kreuz auf sich zu nehmen" bereit waren. Ihre Ge¬
schichte war noch nicht geschrieben und war somit auch noch nicht zu lesen,
aber es ließ sich von denen, die über ihre Jugendjahre hinaus waren, nicht
leicht glauben, daß sie sich der Lebensweise der Shaker ohne wehmüthige
Rückblicke auf die Welt, die sie verlassen, und ohne trübe Ahnung der Zu¬
kunft gewidmet hatten. "Wir sind Frauen", sagte eine von ihnen später,
"und wir haben doch manchmal unsere Gedanken gehabt, daß es schön sein
könnte, einen eignen häuslichen Herd und eigne Kinder zu haben."


W. D. H.


Literatur.

Negistrande der geographisch-statistischen Abtheilung des großen Gcneralstabes.
-- Neues aus der Geographie, Kartographie und Statistik Europas und seinen Co-
lonien. 6. Jahrgang. Berlin, 1876, Mittler und Sohn.

Dieser neue Jahrgang beweist aufs Neue, daß ein derartiger Quellen¬
nachweis, eine derartige Sammlung von Auszügen nur an einer Central-


kündigt wurde, daß die betreffende Hymne das Lieblingslied der Verstorbenen
gewesen sei und auf ihren Wunsch gesungen werden würde. Es wurde nicht
gebetet, auch gab es keine eigentliche Leichenrede, wohl aber sprachen die nettesten
der Brüder sowie die der Schwestern, desgleichen mehrere andere Shaker zur
Erinnerung an das fromme und pflichtgetreue Leben der Schwester Julia und
drückten ihre Liebe zu ihr aus. Ihre Stimmen zitterten, und die jüngern
Schwestern, die in der letzten Zeit viel um die Kranke gewesen waren, ließen
ihren Thränen freien Lauf. Alle, welche sprachen, hatten irgend einen besondern
Zug ihrer Frömmigkeit zu rühmen oder Zeugniß von der oder jener Aeußerung
ihres guten Herzens abzulegen. Einige, darunter auch der Aelteste der Kirchen¬
familie, welcher die Ceremonie leitete, lasen Verse vor, die sie zu ihrem An¬
denken gedichtet hatten. Sie erschienen bei allen diesen Kundgebungen wie
eine große Familie, als Verwandte durch Geburt, die eine Hingeschiedene
Schwester betrauerten. Abgesehen von unserm Freunde, dem Eider Fräser,
waren uns ihre Gesichter bis jetzt unbekannt gewesen, aber sie hatten für
uns alle etwas Interessantes von der runzeligen Stirn des neunzigjährigen
Greises, der ein halbes Jahrhundert in dem sinken Shakerdorfe verlebt hatte,
bis herab zu den vollen, mit Grübchen geschmückten Wangen der kleinen
Knaben und Mädchen, die als Waisenkinder zuletzt in die Gesellschaft aufge¬
nommen worden waren. Es waren vor Allem friedenvolle Gesichter, die
älteren davon trugen den Stempel der Disciplin, welche aufrecht erhält, während
sie Willen und Triebe unterwirft. Das weibliche Geschlecht bildete bei
Weitem die Mehrzahl, wie das auch in gottesdienstlichen Versammlungen
draußen in der Welt der Fall ist, und fast die Hälfte bestand aus Kindern
und jungen Mädchen, von denen noch nicht angenommen werden konnte, daß
sie für alle Zeit „ihr Kreuz auf sich zu nehmen" bereit waren. Ihre Ge¬
schichte war noch nicht geschrieben und war somit auch noch nicht zu lesen,
aber es ließ sich von denen, die über ihre Jugendjahre hinaus waren, nicht
leicht glauben, daß sie sich der Lebensweise der Shaker ohne wehmüthige
Rückblicke auf die Welt, die sie verlassen, und ohne trübe Ahnung der Zu¬
kunft gewidmet hatten. „Wir sind Frauen", sagte eine von ihnen später,
„und wir haben doch manchmal unsere Gedanken gehabt, daß es schön sein
könnte, einen eignen häuslichen Herd und eigne Kinder zu haben."


W. D. H.


Literatur.

Negistrande der geographisch-statistischen Abtheilung des großen Gcneralstabes.
— Neues aus der Geographie, Kartographie und Statistik Europas und seinen Co-
lonien. 6. Jahrgang. Berlin, 1876, Mittler und Sohn.

Dieser neue Jahrgang beweist aufs Neue, daß ein derartiger Quellen¬
nachweis, eine derartige Sammlung von Auszügen nur an einer Central-


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[0166] kündigt wurde, daß die betreffende Hymne das Lieblingslied der Verstorbenen gewesen sei und auf ihren Wunsch gesungen werden würde. Es wurde nicht gebetet, auch gab es keine eigentliche Leichenrede, wohl aber sprachen die nettesten der Brüder sowie die der Schwestern, desgleichen mehrere andere Shaker zur Erinnerung an das fromme und pflichtgetreue Leben der Schwester Julia und drückten ihre Liebe zu ihr aus. Ihre Stimmen zitterten, und die jüngern Schwestern, die in der letzten Zeit viel um die Kranke gewesen waren, ließen ihren Thränen freien Lauf. Alle, welche sprachen, hatten irgend einen besondern Zug ihrer Frömmigkeit zu rühmen oder Zeugniß von der oder jener Aeußerung ihres guten Herzens abzulegen. Einige, darunter auch der Aelteste der Kirchen¬ familie, welcher die Ceremonie leitete, lasen Verse vor, die sie zu ihrem An¬ denken gedichtet hatten. Sie erschienen bei allen diesen Kundgebungen wie eine große Familie, als Verwandte durch Geburt, die eine Hingeschiedene Schwester betrauerten. Abgesehen von unserm Freunde, dem Eider Fräser, waren uns ihre Gesichter bis jetzt unbekannt gewesen, aber sie hatten für uns alle etwas Interessantes von der runzeligen Stirn des neunzigjährigen Greises, der ein halbes Jahrhundert in dem sinken Shakerdorfe verlebt hatte, bis herab zu den vollen, mit Grübchen geschmückten Wangen der kleinen Knaben und Mädchen, die als Waisenkinder zuletzt in die Gesellschaft aufge¬ nommen worden waren. Es waren vor Allem friedenvolle Gesichter, die älteren davon trugen den Stempel der Disciplin, welche aufrecht erhält, während sie Willen und Triebe unterwirft. Das weibliche Geschlecht bildete bei Weitem die Mehrzahl, wie das auch in gottesdienstlichen Versammlungen draußen in der Welt der Fall ist, und fast die Hälfte bestand aus Kindern und jungen Mädchen, von denen noch nicht angenommen werden konnte, daß sie für alle Zeit „ihr Kreuz auf sich zu nehmen" bereit waren. Ihre Ge¬ schichte war noch nicht geschrieben und war somit auch noch nicht zu lesen, aber es ließ sich von denen, die über ihre Jugendjahre hinaus waren, nicht leicht glauben, daß sie sich der Lebensweise der Shaker ohne wehmüthige Rückblicke auf die Welt, die sie verlassen, und ohne trübe Ahnung der Zu¬ kunft gewidmet hatten. „Wir sind Frauen", sagte eine von ihnen später, „und wir haben doch manchmal unsere Gedanken gehabt, daß es schön sein könnte, einen eignen häuslichen Herd und eigne Kinder zu haben." W. D. H. Literatur. Negistrande der geographisch-statistischen Abtheilung des großen Gcneralstabes. — Neues aus der Geographie, Kartographie und Statistik Europas und seinen Co- lonien. 6. Jahrgang. Berlin, 1876, Mittler und Sohn. Dieser neue Jahrgang beweist aufs Neue, daß ein derartiger Quellen¬ nachweis, eine derartige Sammlung von Auszügen nur an einer Central-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684/166>, abgerufen am 19.04.2024.