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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band.

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Zustände und Sitten in der Türkei,
in.

Von besonderem Interesse ist in jetziger Zeit ein Blick auf die Wehrkraft
der Türkei. Dieselbe nimmt sich auf dem Papier ganz stattlich aus, bietet
aber näher betrachtet, namentlich wenn wir von den in Konstantinopel garni-
sonirenden Gardetruppen absehen, dasselbe Bild des mühsam gestützten und
verklebten Verfalls wie die übrigen Einrichtungen des Reiches der Sultane.
Vor hundertundfunfzig Jahren noch zitterten die christlichen Länder Osteuropas
vor den Stößen, welche die Sultane von Stambul mit ihren Heerschaaren
nach Norden hinaufführten. Seitdem ist es mit der türkischen Kriegsmacht
stetig herab gegangen bis auf die klägliche Schlacht bei Nisib, und auch die
neueste Zeit, welche die Armee nach preußischem Muster umgestaltete und sie
mit guten Gewehren und Geschützen versah, hat zwar eine nicht unerhebliche
Besserung gebracht, die im Krimkriege einige Erfolge herbeiführte, aber trotz
des vorzüglichen Soldatenmaterials das türkische Heer kaum den Empörungen
der Provinzen und dem Ehrgeiz von Vasallen, geschweige denn dem ernsten
Angriff einer auswärtigen Macht gewachsen machen konnte. Die türkische
Armee leidet an drei Mängeln, an dem (freilich berechtigten) Mißtrauen der
herrschenden Muhamedaner gegen die Rajah, welches die Wehrpflicht nicht auf
die letztere ausdehnen läßt, an den Unterschleifen der Beamten, welche den
Soldaten vielfach nicht zukommen lassen, was ihnen gebührt, und der ge¬
ringen Bildung der Offiziere bis zum Obersten hinauf. Sie ist schwerfällig^
schlecht verpflegt und unregelmäßig besoldet, selbst in ihren europäischen Be¬
standtheilen, und wie in Betreff anderer Dinge, so ist ist auch hier wenig
Aussicht, daß es in Zukunft besser werden könne.

Zu Anfang dieses Jahrhunderts versuchte Sultan Selim III. die Um¬
gestaltung der türkischen Kriegsmacht nach dem Muster civilistrter Staaten
und scheiterte mit dem Unternehmen an dem Widerstande der Janitscharen,
die, einst der Kern des Heeres, zuletzt in eine unbotmäßige Prätorianerschaar
ausgeartet waren. 1826 rottete Mahmud II., nur hierbei erfolgreich, sonst
allenthalben unglücklich, diese wilden Horden mit Feuer und Schwert aus
und begann das Reorganisationswerk mit Hülfe preußischer Offiziere, kam
damit aber nur langsam vorwärts, da erstens die Kriege mit Nußland 1828
und 1829 und mit Aegypten 1833 ihm hindernd entgegentraten und andrer¬
seits die Abneigung der Bevölkerung vor der Neuerung in mehreren Provinzen,
die auch später fortdauerte, seine Pläne in ihrer Ausführung hemmte. Erst
unter seinem Nachfolger Abdul Medschid nahm die Neugestaltung des Kriegs¬
wesens infolge des Hatischerifs von Gülhane von 1839 und den ergänzenden


Zustände und Sitten in der Türkei,
in.

Von besonderem Interesse ist in jetziger Zeit ein Blick auf die Wehrkraft
der Türkei. Dieselbe nimmt sich auf dem Papier ganz stattlich aus, bietet
aber näher betrachtet, namentlich wenn wir von den in Konstantinopel garni-
sonirenden Gardetruppen absehen, dasselbe Bild des mühsam gestützten und
verklebten Verfalls wie die übrigen Einrichtungen des Reiches der Sultane.
Vor hundertundfunfzig Jahren noch zitterten die christlichen Länder Osteuropas
vor den Stößen, welche die Sultane von Stambul mit ihren Heerschaaren
nach Norden hinaufführten. Seitdem ist es mit der türkischen Kriegsmacht
stetig herab gegangen bis auf die klägliche Schlacht bei Nisib, und auch die
neueste Zeit, welche die Armee nach preußischem Muster umgestaltete und sie
mit guten Gewehren und Geschützen versah, hat zwar eine nicht unerhebliche
Besserung gebracht, die im Krimkriege einige Erfolge herbeiführte, aber trotz
des vorzüglichen Soldatenmaterials das türkische Heer kaum den Empörungen
der Provinzen und dem Ehrgeiz von Vasallen, geschweige denn dem ernsten
Angriff einer auswärtigen Macht gewachsen machen konnte. Die türkische
Armee leidet an drei Mängeln, an dem (freilich berechtigten) Mißtrauen der
herrschenden Muhamedaner gegen die Rajah, welches die Wehrpflicht nicht auf
die letztere ausdehnen läßt, an den Unterschleifen der Beamten, welche den
Soldaten vielfach nicht zukommen lassen, was ihnen gebührt, und der ge¬
ringen Bildung der Offiziere bis zum Obersten hinauf. Sie ist schwerfällig^
schlecht verpflegt und unregelmäßig besoldet, selbst in ihren europäischen Be¬
standtheilen, und wie in Betreff anderer Dinge, so ist ist auch hier wenig
Aussicht, daß es in Zukunft besser werden könne.

Zu Anfang dieses Jahrhunderts versuchte Sultan Selim III. die Um¬
gestaltung der türkischen Kriegsmacht nach dem Muster civilistrter Staaten
und scheiterte mit dem Unternehmen an dem Widerstande der Janitscharen,
die, einst der Kern des Heeres, zuletzt in eine unbotmäßige Prätorianerschaar
ausgeartet waren. 1826 rottete Mahmud II., nur hierbei erfolgreich, sonst
allenthalben unglücklich, diese wilden Horden mit Feuer und Schwert aus
und begann das Reorganisationswerk mit Hülfe preußischer Offiziere, kam
damit aber nur langsam vorwärts, da erstens die Kriege mit Nußland 1828
und 1829 und mit Aegypten 1833 ihm hindernd entgegentraten und andrer¬
seits die Abneigung der Bevölkerung vor der Neuerung in mehreren Provinzen,
die auch später fortdauerte, seine Pläne in ihrer Ausführung hemmte. Erst
unter seinem Nachfolger Abdul Medschid nahm die Neugestaltung des Kriegs¬
wesens infolge des Hatischerifs von Gülhane von 1839 und den ergänzenden


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[0346] Zustände und Sitten in der Türkei, in. Von besonderem Interesse ist in jetziger Zeit ein Blick auf die Wehrkraft der Türkei. Dieselbe nimmt sich auf dem Papier ganz stattlich aus, bietet aber näher betrachtet, namentlich wenn wir von den in Konstantinopel garni- sonirenden Gardetruppen absehen, dasselbe Bild des mühsam gestützten und verklebten Verfalls wie die übrigen Einrichtungen des Reiches der Sultane. Vor hundertundfunfzig Jahren noch zitterten die christlichen Länder Osteuropas vor den Stößen, welche die Sultane von Stambul mit ihren Heerschaaren nach Norden hinaufführten. Seitdem ist es mit der türkischen Kriegsmacht stetig herab gegangen bis auf die klägliche Schlacht bei Nisib, und auch die neueste Zeit, welche die Armee nach preußischem Muster umgestaltete und sie mit guten Gewehren und Geschützen versah, hat zwar eine nicht unerhebliche Besserung gebracht, die im Krimkriege einige Erfolge herbeiführte, aber trotz des vorzüglichen Soldatenmaterials das türkische Heer kaum den Empörungen der Provinzen und dem Ehrgeiz von Vasallen, geschweige denn dem ernsten Angriff einer auswärtigen Macht gewachsen machen konnte. Die türkische Armee leidet an drei Mängeln, an dem (freilich berechtigten) Mißtrauen der herrschenden Muhamedaner gegen die Rajah, welches die Wehrpflicht nicht auf die letztere ausdehnen läßt, an den Unterschleifen der Beamten, welche den Soldaten vielfach nicht zukommen lassen, was ihnen gebührt, und der ge¬ ringen Bildung der Offiziere bis zum Obersten hinauf. Sie ist schwerfällig^ schlecht verpflegt und unregelmäßig besoldet, selbst in ihren europäischen Be¬ standtheilen, und wie in Betreff anderer Dinge, so ist ist auch hier wenig Aussicht, daß es in Zukunft besser werden könne. Zu Anfang dieses Jahrhunderts versuchte Sultan Selim III. die Um¬ gestaltung der türkischen Kriegsmacht nach dem Muster civilistrter Staaten und scheiterte mit dem Unternehmen an dem Widerstande der Janitscharen, die, einst der Kern des Heeres, zuletzt in eine unbotmäßige Prätorianerschaar ausgeartet waren. 1826 rottete Mahmud II., nur hierbei erfolgreich, sonst allenthalben unglücklich, diese wilden Horden mit Feuer und Schwert aus und begann das Reorganisationswerk mit Hülfe preußischer Offiziere, kam damit aber nur langsam vorwärts, da erstens die Kriege mit Nußland 1828 und 1829 und mit Aegypten 1833 ihm hindernd entgegentraten und andrer¬ seits die Abneigung der Bevölkerung vor der Neuerung in mehreren Provinzen, die auch später fortdauerte, seine Pläne in ihrer Ausführung hemmte. Erst unter seinem Nachfolger Abdul Medschid nahm die Neugestaltung des Kriegs¬ wesens infolge des Hatischerifs von Gülhane von 1839 und den ergänzenden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684/346>, abgerufen am 24.04.2024.