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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band.

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Moderne Krankheitssymptome.
3. Der Hang zu monströsen Bildungen.

Wir verstehen unter dem Hang einer Zeit zu monströsen Bildungen die
krankhafte Neigung, die Einzelformen der menschlichen Kultur in maßlosen
Größen, d. h. in solchen Größen, welche über das menschliche Maß hinaus¬
gehen, darzustellen. Daß es eine Berechtigung gebe, von menschlichen Maßen
zu reden, beweisen zunächst in Beziehung auf die Menschengestalt die Vor¬
stellungen von Riesen und von Zwergen. Diese Vorstellungen haben in der
alten skandinavischen Mythologie einen Werth, den man fast dogmatisch
nennen könnte. Die Riesen sind maßlos groß und stark, und deshalb eben
Feinde des Asenreichs, die Zwerge sind maßlos klein und darum besitzen sie
ebenfalls eine unheimliche Stärke in ihrer List und Klugheit. Die Asen da¬
gegen haben zwar eine göttliche Heldengröße, aber in bestimmter Menschen¬
gestalt. Das Lebensgesetz des menschlichen Maßes für menschliche Produkte
ist vor Allem die Form der Anschaulichkeit, der menschlichen Faßlichkeit und
Fühlbarkeit. Man kann sich dieses Gesetz nach den verschiedensten Beziehungen
klar machen. Man versuche es z. B. einmal im Gebiet der Töne, durch ein
Sprechrohr hindurch ein Gedicht zu deklamiren. Ein Geistlicher wird es für
unmöglich halten, schwerhöriger Kranken biblische Trostworte mit dem Aus¬
druck der Empfindung ins Ohr zu schreien. So müssen auch wohl die Ver¬
suche der modernsten Musik, die künstlerische Tonleiter über das menschliche
Maß hinauszusteigern, aus den singenden Asinnen singende Riesinnen zu
machen, an dem Lebensgesetz des menschlichen Maßes Schiffbruch leiden.
Mit dem menschlichen Gesichtsfelde ist es ebenso. Für die Wissenschaft sind
Telescop und Mikroskop von unschätzbarem Werth, aber keinem wird es ein¬
fallen, durch das Telescop hindurch eine schöne Landschaft zu bewundern,
oder das Mikroscop zur Darstellung von Genrebildern zu verwenden. Es
ist eine bekannte Thatsache, daß der Mensch sowohl in Bezug auf den Um¬
fang der hörbaren Töne als auf dem Bezirk seines Sehfeldes seine gemessnen
Schranken hat. Und zwar sind diese Schranken nicht bestimmt, ihn zu be¬
schränken, sondern seine Wahrnehmungen zu concentriren. ihnen die menschliche
Lebenswärme zu sichern, so daß man sagen könnte, sie sind bestimmt, einen
Brennpunkt im weiteren Sinne für alle seine Auffassungen zu bilden.

Glücklich ist nun der Mensch, welcher in Bezug auf das Menschenmaß
der Dinge und vor Allem seiner Bildungen sich in seine Menschensphäre zu
finden weiß, also nicht nur nicht an ihren Schranken rüttelt, sondern inner¬
halb ihres Bezirkes das schöne Leben der menschlichen Erscheinung und Er¬
fahrung verwirklicht. Glücklich war also der klassische Grieche in seinen


Moderne Krankheitssymptome.
3. Der Hang zu monströsen Bildungen.

Wir verstehen unter dem Hang einer Zeit zu monströsen Bildungen die
krankhafte Neigung, die Einzelformen der menschlichen Kultur in maßlosen
Größen, d. h. in solchen Größen, welche über das menschliche Maß hinaus¬
gehen, darzustellen. Daß es eine Berechtigung gebe, von menschlichen Maßen
zu reden, beweisen zunächst in Beziehung auf die Menschengestalt die Vor¬
stellungen von Riesen und von Zwergen. Diese Vorstellungen haben in der
alten skandinavischen Mythologie einen Werth, den man fast dogmatisch
nennen könnte. Die Riesen sind maßlos groß und stark, und deshalb eben
Feinde des Asenreichs, die Zwerge sind maßlos klein und darum besitzen sie
ebenfalls eine unheimliche Stärke in ihrer List und Klugheit. Die Asen da¬
gegen haben zwar eine göttliche Heldengröße, aber in bestimmter Menschen¬
gestalt. Das Lebensgesetz des menschlichen Maßes für menschliche Produkte
ist vor Allem die Form der Anschaulichkeit, der menschlichen Faßlichkeit und
Fühlbarkeit. Man kann sich dieses Gesetz nach den verschiedensten Beziehungen
klar machen. Man versuche es z. B. einmal im Gebiet der Töne, durch ein
Sprechrohr hindurch ein Gedicht zu deklamiren. Ein Geistlicher wird es für
unmöglich halten, schwerhöriger Kranken biblische Trostworte mit dem Aus¬
druck der Empfindung ins Ohr zu schreien. So müssen auch wohl die Ver¬
suche der modernsten Musik, die künstlerische Tonleiter über das menschliche
Maß hinauszusteigern, aus den singenden Asinnen singende Riesinnen zu
machen, an dem Lebensgesetz des menschlichen Maßes Schiffbruch leiden.
Mit dem menschlichen Gesichtsfelde ist es ebenso. Für die Wissenschaft sind
Telescop und Mikroskop von unschätzbarem Werth, aber keinem wird es ein¬
fallen, durch das Telescop hindurch eine schöne Landschaft zu bewundern,
oder das Mikroscop zur Darstellung von Genrebildern zu verwenden. Es
ist eine bekannte Thatsache, daß der Mensch sowohl in Bezug auf den Um¬
fang der hörbaren Töne als auf dem Bezirk seines Sehfeldes seine gemessnen
Schranken hat. Und zwar sind diese Schranken nicht bestimmt, ihn zu be¬
schränken, sondern seine Wahrnehmungen zu concentriren. ihnen die menschliche
Lebenswärme zu sichern, so daß man sagen könnte, sie sind bestimmt, einen
Brennpunkt im weiteren Sinne für alle seine Auffassungen zu bilden.

Glücklich ist nun der Mensch, welcher in Bezug auf das Menschenmaß
der Dinge und vor Allem seiner Bildungen sich in seine Menschensphäre zu
finden weiß, also nicht nur nicht an ihren Schranken rüttelt, sondern inner¬
halb ihres Bezirkes das schöne Leben der menschlichen Erscheinung und Er¬
fahrung verwirklicht. Glücklich war also der klassische Grieche in seinen


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[0083] Moderne Krankheitssymptome. 3. Der Hang zu monströsen Bildungen. Wir verstehen unter dem Hang einer Zeit zu monströsen Bildungen die krankhafte Neigung, die Einzelformen der menschlichen Kultur in maßlosen Größen, d. h. in solchen Größen, welche über das menschliche Maß hinaus¬ gehen, darzustellen. Daß es eine Berechtigung gebe, von menschlichen Maßen zu reden, beweisen zunächst in Beziehung auf die Menschengestalt die Vor¬ stellungen von Riesen und von Zwergen. Diese Vorstellungen haben in der alten skandinavischen Mythologie einen Werth, den man fast dogmatisch nennen könnte. Die Riesen sind maßlos groß und stark, und deshalb eben Feinde des Asenreichs, die Zwerge sind maßlos klein und darum besitzen sie ebenfalls eine unheimliche Stärke in ihrer List und Klugheit. Die Asen da¬ gegen haben zwar eine göttliche Heldengröße, aber in bestimmter Menschen¬ gestalt. Das Lebensgesetz des menschlichen Maßes für menschliche Produkte ist vor Allem die Form der Anschaulichkeit, der menschlichen Faßlichkeit und Fühlbarkeit. Man kann sich dieses Gesetz nach den verschiedensten Beziehungen klar machen. Man versuche es z. B. einmal im Gebiet der Töne, durch ein Sprechrohr hindurch ein Gedicht zu deklamiren. Ein Geistlicher wird es für unmöglich halten, schwerhöriger Kranken biblische Trostworte mit dem Aus¬ druck der Empfindung ins Ohr zu schreien. So müssen auch wohl die Ver¬ suche der modernsten Musik, die künstlerische Tonleiter über das menschliche Maß hinauszusteigern, aus den singenden Asinnen singende Riesinnen zu machen, an dem Lebensgesetz des menschlichen Maßes Schiffbruch leiden. Mit dem menschlichen Gesichtsfelde ist es ebenso. Für die Wissenschaft sind Telescop und Mikroskop von unschätzbarem Werth, aber keinem wird es ein¬ fallen, durch das Telescop hindurch eine schöne Landschaft zu bewundern, oder das Mikroscop zur Darstellung von Genrebildern zu verwenden. Es ist eine bekannte Thatsache, daß der Mensch sowohl in Bezug auf den Um¬ fang der hörbaren Töne als auf dem Bezirk seines Sehfeldes seine gemessnen Schranken hat. Und zwar sind diese Schranken nicht bestimmt, ihn zu be¬ schränken, sondern seine Wahrnehmungen zu concentriren. ihnen die menschliche Lebenswärme zu sichern, so daß man sagen könnte, sie sind bestimmt, einen Brennpunkt im weiteren Sinne für alle seine Auffassungen zu bilden. Glücklich ist nun der Mensch, welcher in Bezug auf das Menschenmaß der Dinge und vor Allem seiner Bildungen sich in seine Menschensphäre zu finden weiß, also nicht nur nicht an ihren Schranken rüttelt, sondern inner¬ halb ihres Bezirkes das schöne Leben der menschlichen Erscheinung und Er¬ fahrung verwirklicht. Glücklich war also der klassische Grieche in seinen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684/83>, abgerufen am 29.03.2024.