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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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Thorbecke und die Niederlande.

Es hat wenige Staatsmänner gegeben, welche einen so entscheidenden
Einfluß auf das Schicksal ihres Volkes ausgeübt haben, wie Rudolph
Johann Thorbecke. Nicht die Verhältnisse des niederländischen Staates
seinen Nachbarn oder zu Europa wurden durch diesen Staatsmann be¬
stimmend geleitet, denn Holland war nicht mehr wie in vergangenen Tagen in
der Lage. Einfluß auf die Geschicke unseres Welttheils auszuüben. Aber das innere
politische Leben des Volkes wurde durch Thorbecke eine Zeit lang, und zwar
glücklich, beherrscht. Wir sehen an ihm ein Beispiel, wie ein Mann aus
^ner immerhin schlichten Umgebung, durch die Macht seiner Ueberzeugung
und seiner Lehre einerseits, und die Lage der Umstände andrerseits, hervor¬
zutreten vermag, um der Führer seines Volkes in schwieriger Zeit zu werden.
Wir sehen die Aristokratie des Geistes zur Regierungsmaxime sich empor¬
arbeiten und eine kurze Zeit zur vollen Blüthe gelangen, um dann durch den
Einfluß kleinlicher, widerstrebender Sonderinteressen gelähmt und zur Seite
geschoben zu werden.

Thorbecke wurde im Jahre 1798 in Zwolle als Kind bürgerlicher Eltern
geboren. Nach dem Besuch des Gymnasiums studirte er in den Jahren
1815--17 am Athenaeum zu Amsterdam und dann bis 1820 an der Leidener
Universität. Von dort ging er einige Zeit nach Deutschland, insbesondere
"och Göttingen, um das Studium der Staatsrechtswissenschaften fortzusetzen.
Hier wurde er mit der historischen Schule bekannt, die einen überwiegenden
^"fluß auf seine spätere Entwickelung ausübte. Wieder ins Vaterland zu-
^ckgekehrt erhielt er einen Lehrstuhl an der Universität zu Gent, und nach
belgischen Revolution, zu Leiden. Diese Zeit der sich vorbereitenden und
^ziehenden Trennung der südlichen von der nördlichen Hälfte der Nieder¬
lande war auch für Thorbecke eine Zeit des entstehenden Zweifels an dem
^her befolgten Regierungsprincip, an der Heilsamkeit des in seinem speciellen
Nördlichen niederländischen Vaterlande herrschenden Ideen. Aber er kann


Grenzboten IV. 1876. 21
Thorbecke und die Niederlande.

Es hat wenige Staatsmänner gegeben, welche einen so entscheidenden
Einfluß auf das Schicksal ihres Volkes ausgeübt haben, wie Rudolph
Johann Thorbecke. Nicht die Verhältnisse des niederländischen Staates
seinen Nachbarn oder zu Europa wurden durch diesen Staatsmann be¬
stimmend geleitet, denn Holland war nicht mehr wie in vergangenen Tagen in
der Lage. Einfluß auf die Geschicke unseres Welttheils auszuüben. Aber das innere
politische Leben des Volkes wurde durch Thorbecke eine Zeit lang, und zwar
glücklich, beherrscht. Wir sehen an ihm ein Beispiel, wie ein Mann aus
^ner immerhin schlichten Umgebung, durch die Macht seiner Ueberzeugung
und seiner Lehre einerseits, und die Lage der Umstände andrerseits, hervor¬
zutreten vermag, um der Führer seines Volkes in schwieriger Zeit zu werden.
Wir sehen die Aristokratie des Geistes zur Regierungsmaxime sich empor¬
arbeiten und eine kurze Zeit zur vollen Blüthe gelangen, um dann durch den
Einfluß kleinlicher, widerstrebender Sonderinteressen gelähmt und zur Seite
geschoben zu werden.

Thorbecke wurde im Jahre 1798 in Zwolle als Kind bürgerlicher Eltern
geboren. Nach dem Besuch des Gymnasiums studirte er in den Jahren
1815—17 am Athenaeum zu Amsterdam und dann bis 1820 an der Leidener
Universität. Von dort ging er einige Zeit nach Deutschland, insbesondere
"och Göttingen, um das Studium der Staatsrechtswissenschaften fortzusetzen.
Hier wurde er mit der historischen Schule bekannt, die einen überwiegenden
^"fluß auf seine spätere Entwickelung ausübte. Wieder ins Vaterland zu-
^ckgekehrt erhielt er einen Lehrstuhl an der Universität zu Gent, und nach
belgischen Revolution, zu Leiden. Diese Zeit der sich vorbereitenden und
^ziehenden Trennung der südlichen von der nördlichen Hälfte der Nieder¬
lande war auch für Thorbecke eine Zeit des entstehenden Zweifels an dem
^her befolgten Regierungsprincip, an der Heilsamkeit des in seinem speciellen
Nördlichen niederländischen Vaterlande herrschenden Ideen. Aber er kann


Grenzboten IV. 1876. 21
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[0165] Thorbecke und die Niederlande. Es hat wenige Staatsmänner gegeben, welche einen so entscheidenden Einfluß auf das Schicksal ihres Volkes ausgeübt haben, wie Rudolph Johann Thorbecke. Nicht die Verhältnisse des niederländischen Staates seinen Nachbarn oder zu Europa wurden durch diesen Staatsmann be¬ stimmend geleitet, denn Holland war nicht mehr wie in vergangenen Tagen in der Lage. Einfluß auf die Geschicke unseres Welttheils auszuüben. Aber das innere politische Leben des Volkes wurde durch Thorbecke eine Zeit lang, und zwar glücklich, beherrscht. Wir sehen an ihm ein Beispiel, wie ein Mann aus ^ner immerhin schlichten Umgebung, durch die Macht seiner Ueberzeugung und seiner Lehre einerseits, und die Lage der Umstände andrerseits, hervor¬ zutreten vermag, um der Führer seines Volkes in schwieriger Zeit zu werden. Wir sehen die Aristokratie des Geistes zur Regierungsmaxime sich empor¬ arbeiten und eine kurze Zeit zur vollen Blüthe gelangen, um dann durch den Einfluß kleinlicher, widerstrebender Sonderinteressen gelähmt und zur Seite geschoben zu werden. Thorbecke wurde im Jahre 1798 in Zwolle als Kind bürgerlicher Eltern geboren. Nach dem Besuch des Gymnasiums studirte er in den Jahren 1815—17 am Athenaeum zu Amsterdam und dann bis 1820 an der Leidener Universität. Von dort ging er einige Zeit nach Deutschland, insbesondere "och Göttingen, um das Studium der Staatsrechtswissenschaften fortzusetzen. Hier wurde er mit der historischen Schule bekannt, die einen überwiegenden ^"fluß auf seine spätere Entwickelung ausübte. Wieder ins Vaterland zu- ^ckgekehrt erhielt er einen Lehrstuhl an der Universität zu Gent, und nach belgischen Revolution, zu Leiden. Diese Zeit der sich vorbereitenden und ^ziehenden Trennung der südlichen von der nördlichen Hälfte der Nieder¬ lande war auch für Thorbecke eine Zeit des entstehenden Zweifels an dem ^her befolgten Regierungsprincip, an der Heilsamkeit des in seinem speciellen Nördlichen niederländischen Vaterlande herrschenden Ideen. Aber er kann Grenzboten IV. 1876. 21

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/165>, abgerufen am 29.04.2024.