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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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Lazarus' Leben der Seele.
(Die Bedeutung der Schrift in der Gegenwart. -- Bildung
und Wissenschaft.) Von or. L. Weis.

Ein Literarstatistiker will bewiesen haben, daß geistige Epochen eine
Zeitdauer von 19 Jahren umfaßten, man möchte wünschen, daß er recht habe:
denn seit 18S9 hat man vor lauter Darwin und Darwinismus wenig Anderes
gehört und sehnt sich nach Abwechselung. Man möchte aber auch glauben,
daß die Theorie richtig sei, da in der That die d arwinistische Epoche jetzt,
1876, bereits eine Transmutation erlitten hat. Darwins eifrigste Vertheidiger
wollen nämlich nicht mehr von Darwinismus, sondern nur von Descendenz¬
lehre, Entwickelungslehre reden. Sie sagen, das was eigentlich neu sei bei
Darwin und was zuerst seinen Ruhm begründet hätte: die Lehre vom Kampf
ums Dasein und von der natürlichen Zuchtwahl, das sei freilich nicht so
wichtig, wie man zuerst gemeint habe; aber sein dauerndes Verdienst sei, daß
er das Princip der Entwickelung aufgestellt habe, das ja schon von Leibnitz
Kant, Fichte, Schelling, Hegel durchzuführen versucht worden sei. Mit andern
Worten: Darwin hat das Entwickelungsprineip nicht aufgestellt, weil es schon
da war, er hat es nicht begründet, weil seine Mittel ungenügend gefunden
wurden; man räumt ihm daher nur noch das Verdienst ein, daß er die
Naturforschung aus der empiristischen Einzelerforschung wieder zu einer um¬
fassenden philosophischen Betrachtung und zwar zu dem Princip der deutschen
Philosophie zurückgeführt habe. Freilich trägt die neue Entwickelungslehre
einen entschieden materialistischen, und nicht einen idealen Character, wie die
frühere. Aber auch hier, scheint mir, steht man an der Schwelle einer Transmuta¬
tion, nämlich der Umwandlung der materialistischen Entwickelung in die ideale.
Der Hinweis auf Leibnitz, Kant, Fichte, Schelling. Hegel und damit die Be¬
schäftigung mit diesen Männern, welche den objectiven oder absoluten Idealis¬
mus anbahnten und durchführten, konnte nicht ohne Einfluß auf die mate¬
rialistische Anschauung bleiben. Und während man vor 19 Jahren noch
voll und selbstgefällig vom Materialismus sprach, so verwischt man jetzt diesen
Namen, weil er Mißverständnisse erwecke; man will Monismus, Realismus,
sogar Idealismus gesagt haben.



") Prof. or. W. Lazarus: Das Leben der Seele in Monographieen über seine Erschei-
nungen und Gesetze. Zweite erweiterte und vermehrte Aufl. I. Bd. Berlin. Ferd. Dümmler's
Verlag. Hanwitz u. Goßmann 1876.
Lazarus' Leben der Seele.
(Die Bedeutung der Schrift in der Gegenwart. — Bildung
und Wissenschaft.) Von or. L. Weis.

Ein Literarstatistiker will bewiesen haben, daß geistige Epochen eine
Zeitdauer von 19 Jahren umfaßten, man möchte wünschen, daß er recht habe:
denn seit 18S9 hat man vor lauter Darwin und Darwinismus wenig Anderes
gehört und sehnt sich nach Abwechselung. Man möchte aber auch glauben,
daß die Theorie richtig sei, da in der That die d arwinistische Epoche jetzt,
1876, bereits eine Transmutation erlitten hat. Darwins eifrigste Vertheidiger
wollen nämlich nicht mehr von Darwinismus, sondern nur von Descendenz¬
lehre, Entwickelungslehre reden. Sie sagen, das was eigentlich neu sei bei
Darwin und was zuerst seinen Ruhm begründet hätte: die Lehre vom Kampf
ums Dasein und von der natürlichen Zuchtwahl, das sei freilich nicht so
wichtig, wie man zuerst gemeint habe; aber sein dauerndes Verdienst sei, daß
er das Princip der Entwickelung aufgestellt habe, das ja schon von Leibnitz
Kant, Fichte, Schelling, Hegel durchzuführen versucht worden sei. Mit andern
Worten: Darwin hat das Entwickelungsprineip nicht aufgestellt, weil es schon
da war, er hat es nicht begründet, weil seine Mittel ungenügend gefunden
wurden; man räumt ihm daher nur noch das Verdienst ein, daß er die
Naturforschung aus der empiristischen Einzelerforschung wieder zu einer um¬
fassenden philosophischen Betrachtung und zwar zu dem Princip der deutschen
Philosophie zurückgeführt habe. Freilich trägt die neue Entwickelungslehre
einen entschieden materialistischen, und nicht einen idealen Character, wie die
frühere. Aber auch hier, scheint mir, steht man an der Schwelle einer Transmuta¬
tion, nämlich der Umwandlung der materialistischen Entwickelung in die ideale.
Der Hinweis auf Leibnitz, Kant, Fichte, Schelling. Hegel und damit die Be¬
schäftigung mit diesen Männern, welche den objectiven oder absoluten Idealis¬
mus anbahnten und durchführten, konnte nicht ohne Einfluß auf die mate¬
rialistische Anschauung bleiben. Und während man vor 19 Jahren noch
voll und selbstgefällig vom Materialismus sprach, so verwischt man jetzt diesen
Namen, weil er Mißverständnisse erwecke; man will Monismus, Realismus,
sogar Idealismus gesagt haben.



") Prof. or. W. Lazarus: Das Leben der Seele in Monographieen über seine Erschei-
nungen und Gesetze. Zweite erweiterte und vermehrte Aufl. I. Bd. Berlin. Ferd. Dümmler's
Verlag. Hanwitz u. Goßmann 1876.
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[0188] Lazarus' Leben der Seele. (Die Bedeutung der Schrift in der Gegenwart. — Bildung und Wissenschaft.) Von or. L. Weis. Ein Literarstatistiker will bewiesen haben, daß geistige Epochen eine Zeitdauer von 19 Jahren umfaßten, man möchte wünschen, daß er recht habe: denn seit 18S9 hat man vor lauter Darwin und Darwinismus wenig Anderes gehört und sehnt sich nach Abwechselung. Man möchte aber auch glauben, daß die Theorie richtig sei, da in der That die d arwinistische Epoche jetzt, 1876, bereits eine Transmutation erlitten hat. Darwins eifrigste Vertheidiger wollen nämlich nicht mehr von Darwinismus, sondern nur von Descendenz¬ lehre, Entwickelungslehre reden. Sie sagen, das was eigentlich neu sei bei Darwin und was zuerst seinen Ruhm begründet hätte: die Lehre vom Kampf ums Dasein und von der natürlichen Zuchtwahl, das sei freilich nicht so wichtig, wie man zuerst gemeint habe; aber sein dauerndes Verdienst sei, daß er das Princip der Entwickelung aufgestellt habe, das ja schon von Leibnitz Kant, Fichte, Schelling, Hegel durchzuführen versucht worden sei. Mit andern Worten: Darwin hat das Entwickelungsprineip nicht aufgestellt, weil es schon da war, er hat es nicht begründet, weil seine Mittel ungenügend gefunden wurden; man räumt ihm daher nur noch das Verdienst ein, daß er die Naturforschung aus der empiristischen Einzelerforschung wieder zu einer um¬ fassenden philosophischen Betrachtung und zwar zu dem Princip der deutschen Philosophie zurückgeführt habe. Freilich trägt die neue Entwickelungslehre einen entschieden materialistischen, und nicht einen idealen Character, wie die frühere. Aber auch hier, scheint mir, steht man an der Schwelle einer Transmuta¬ tion, nämlich der Umwandlung der materialistischen Entwickelung in die ideale. Der Hinweis auf Leibnitz, Kant, Fichte, Schelling. Hegel und damit die Be¬ schäftigung mit diesen Männern, welche den objectiven oder absoluten Idealis¬ mus anbahnten und durchführten, konnte nicht ohne Einfluß auf die mate¬ rialistische Anschauung bleiben. Und während man vor 19 Jahren noch voll und selbstgefällig vom Materialismus sprach, so verwischt man jetzt diesen Namen, weil er Mißverständnisse erwecke; man will Monismus, Realismus, sogar Idealismus gesagt haben. ") Prof. or. W. Lazarus: Das Leben der Seele in Monographieen über seine Erschei- nungen und Gesetze. Zweite erweiterte und vermehrte Aufl. I. Bd. Berlin. Ferd. Dümmler's Verlag. Hanwitz u. Goßmann 1876.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/188>, abgerufen am 29.04.2024.