Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Sarg, bisweilen auch nichts, wohl aber vernehmen sie dann, wie Bretter
vom Boden geworfen oder ein Sarg zugenagelt wird. Ein Schneider oder
eine Nätherin hört die Scheere "snippeln", wenn bald ein Todtenhemde
angefertigt werden muß, wird in Büren behauptet. Oft sieht hier
der Seher ein Feuer an einem Hause hinauflaufen, und dann muß er
schnell hingehen und fühlen, ob es warm oder kalt ist. Ist es warm, so
verkündigt es einen baldigen Brand, ist es kalt, so bedeutet es eine Leiche.
Aehnlicher Glaube herrscht im Bremischen, wo man im letzteren Falle beob¬
achten muß, wo das anscheinend in Flammen stehende Dachstroh zuerst
herabfällt; geschieht dieß auf der Vorderseite des Hauses, so stirbt binnen
Jahr und Tag der Hausherr, geschieht es auf der hintern Seite, so zeigt es
an, daß in derselben Frist die Hausfrau sterben wird. Von andern solchen
Sehern weiß man nur, daß sie kommende Ereignisse voraussagen, aber nicht,
wie sie zu dieser Kunde gelangen. So ist in Werk einmal ein Knecht ge¬
wesen, der hat es jedesmal vorausgewußt, wenn einer sterben sollte. Er
merkte es, wenn der Pastor in's Haus trat, aber woran, hat er nicht sagen
wollen. Je später nach Mitternacht man eine Vorgeschichte wahrnimmt,
desto rascher, je früher vor Mitternacht man sie schaut, desto später tritt das
betreffende Ereigniß ein. Sieht man sich in einem gespenstischen Leichenzuge
nicht selbst, so kann es sein, daß man bald sterben muß. Schon Mancher
hat sich selbst im Sarge liegen sehen. Es ist ferner vorgekommen, daß von
zwei Personen, die mit einander des Nachts über die Straße gingen, der
eine ihnen blos einen Leichenzug entgegenschreiten sah, während der andere
die Vorgeschichte schaute. Jener warnt: "Geh aus dem Wege." -- "Warum?"
fragt der Andere, und in demselben Augenblicke rennt er an den Sarg an
und stürzt von dem Stoße zu Boden. Nun sieht auch der Erste nichts mehr.
Bisweilen täuschen sich die Vorgeschichtenseher über die Bedeutung des von
ihnen Geschauten. In der Pfarre zu Siddinghausen erblickte der Knecht
eines Tages einen Sarg auf der Hausflur, und glaubte, derselbe zeige den
baldigen Tod der kranken Haushälterin an, aber sie wurde gesund, während
er selbst nach kurzer Zeit starb.

Auffallen kann, daß vor den Leichenwagen, der den Sehern erscheint, ge¬
wöhnlich ein Schimmel gespannt ist, es ist aber nur ein Nachhall des Glaubens
an das weiße Roß Wuotans, des alten Gottes, der die Todten abholte.
In der Gegend von Dortmund geschah es einmal, daß ein Knabe, der die
Gabe des zweiten Gesichts besaß, wegen irgend eines dummen Streichs von
einem Müller Prügel bekam. "Warte nur", sagte erbittert der Junge, "du
sollst hier nicht mehr lange Hausen, bald wird dich das weiße Pferd holen."
Und so kam es denn auch. Der Müller starb nach vierzehn Tagen und
wurde mit einem Schimmel zu Grabe gefahren. Zu Echthausen starb die


I

Sarg, bisweilen auch nichts, wohl aber vernehmen sie dann, wie Bretter
vom Boden geworfen oder ein Sarg zugenagelt wird. Ein Schneider oder
eine Nätherin hört die Scheere „snippeln", wenn bald ein Todtenhemde
angefertigt werden muß, wird in Büren behauptet. Oft sieht hier
der Seher ein Feuer an einem Hause hinauflaufen, und dann muß er
schnell hingehen und fühlen, ob es warm oder kalt ist. Ist es warm, so
verkündigt es einen baldigen Brand, ist es kalt, so bedeutet es eine Leiche.
Aehnlicher Glaube herrscht im Bremischen, wo man im letzteren Falle beob¬
achten muß, wo das anscheinend in Flammen stehende Dachstroh zuerst
herabfällt; geschieht dieß auf der Vorderseite des Hauses, so stirbt binnen
Jahr und Tag der Hausherr, geschieht es auf der hintern Seite, so zeigt es
an, daß in derselben Frist die Hausfrau sterben wird. Von andern solchen
Sehern weiß man nur, daß sie kommende Ereignisse voraussagen, aber nicht,
wie sie zu dieser Kunde gelangen. So ist in Werk einmal ein Knecht ge¬
wesen, der hat es jedesmal vorausgewußt, wenn einer sterben sollte. Er
merkte es, wenn der Pastor in's Haus trat, aber woran, hat er nicht sagen
wollen. Je später nach Mitternacht man eine Vorgeschichte wahrnimmt,
desto rascher, je früher vor Mitternacht man sie schaut, desto später tritt das
betreffende Ereigniß ein. Sieht man sich in einem gespenstischen Leichenzuge
nicht selbst, so kann es sein, daß man bald sterben muß. Schon Mancher
hat sich selbst im Sarge liegen sehen. Es ist ferner vorgekommen, daß von
zwei Personen, die mit einander des Nachts über die Straße gingen, der
eine ihnen blos einen Leichenzug entgegenschreiten sah, während der andere
die Vorgeschichte schaute. Jener warnt: „Geh aus dem Wege." — „Warum?"
fragt der Andere, und in demselben Augenblicke rennt er an den Sarg an
und stürzt von dem Stoße zu Boden. Nun sieht auch der Erste nichts mehr.
Bisweilen täuschen sich die Vorgeschichtenseher über die Bedeutung des von
ihnen Geschauten. In der Pfarre zu Siddinghausen erblickte der Knecht
eines Tages einen Sarg auf der Hausflur, und glaubte, derselbe zeige den
baldigen Tod der kranken Haushälterin an, aber sie wurde gesund, während
er selbst nach kurzer Zeit starb.

Auffallen kann, daß vor den Leichenwagen, der den Sehern erscheint, ge¬
wöhnlich ein Schimmel gespannt ist, es ist aber nur ein Nachhall des Glaubens
an das weiße Roß Wuotans, des alten Gottes, der die Todten abholte.
In der Gegend von Dortmund geschah es einmal, daß ein Knabe, der die
Gabe des zweiten Gesichts besaß, wegen irgend eines dummen Streichs von
einem Müller Prügel bekam. „Warte nur", sagte erbittert der Junge, „du
sollst hier nicht mehr lange Hausen, bald wird dich das weiße Pferd holen."
Und so kam es denn auch. Der Müller starb nach vierzehn Tagen und
wurde mit einem Schimmel zu Grabe gefahren. Zu Echthausen starb die


I

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0370" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/137009"/>
          <p xml:id="ID_1164" prev="#ID_1163"> Sarg, bisweilen auch nichts, wohl aber vernehmen sie dann, wie Bretter<lb/>
vom Boden geworfen oder ein Sarg zugenagelt wird. Ein Schneider oder<lb/>
eine Nätherin hört die Scheere &#x201E;snippeln", wenn bald ein Todtenhemde<lb/>
angefertigt werden muß, wird in Büren behauptet. Oft sieht hier<lb/>
der Seher ein Feuer an einem Hause hinauflaufen, und dann muß er<lb/>
schnell hingehen und fühlen, ob es warm oder kalt ist. Ist es warm, so<lb/>
verkündigt es einen baldigen Brand, ist es kalt, so bedeutet es eine Leiche.<lb/>
Aehnlicher Glaube herrscht im Bremischen, wo man im letzteren Falle beob¬<lb/>
achten muß, wo das anscheinend in Flammen stehende Dachstroh zuerst<lb/>
herabfällt; geschieht dieß auf der Vorderseite des Hauses, so stirbt binnen<lb/>
Jahr und Tag der Hausherr, geschieht es auf der hintern Seite, so zeigt es<lb/>
an, daß in derselben Frist die Hausfrau sterben wird. Von andern solchen<lb/>
Sehern weiß man nur, daß sie kommende Ereignisse voraussagen, aber nicht,<lb/>
wie sie zu dieser Kunde gelangen. So ist in Werk einmal ein Knecht ge¬<lb/>
wesen, der hat es jedesmal vorausgewußt, wenn einer sterben sollte. Er<lb/>
merkte es, wenn der Pastor in's Haus trat, aber woran, hat er nicht sagen<lb/>
wollen. Je später nach Mitternacht man eine Vorgeschichte wahrnimmt,<lb/>
desto rascher, je früher vor Mitternacht man sie schaut, desto später tritt das<lb/>
betreffende Ereigniß ein. Sieht man sich in einem gespenstischen Leichenzuge<lb/>
nicht selbst, so kann es sein, daß man bald sterben muß. Schon Mancher<lb/>
hat sich selbst im Sarge liegen sehen. Es ist ferner vorgekommen, daß von<lb/>
zwei Personen, die mit einander des Nachts über die Straße gingen, der<lb/>
eine ihnen blos einen Leichenzug entgegenschreiten sah, während der andere<lb/>
die Vorgeschichte schaute. Jener warnt: &#x201E;Geh aus dem Wege." &#x2014; &#x201E;Warum?"<lb/>
fragt der Andere, und in demselben Augenblicke rennt er an den Sarg an<lb/>
und stürzt von dem Stoße zu Boden. Nun sieht auch der Erste nichts mehr.<lb/>
Bisweilen täuschen sich die Vorgeschichtenseher über die Bedeutung des von<lb/>
ihnen Geschauten. In der Pfarre zu Siddinghausen erblickte der Knecht<lb/>
eines Tages einen Sarg auf der Hausflur, und glaubte, derselbe zeige den<lb/>
baldigen Tod der kranken Haushälterin an, aber sie wurde gesund, während<lb/>
er selbst nach kurzer Zeit starb.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1165" next="#ID_1166"> Auffallen kann, daß vor den Leichenwagen, der den Sehern erscheint, ge¬<lb/>
wöhnlich ein Schimmel gespannt ist, es ist aber nur ein Nachhall des Glaubens<lb/>
an das weiße Roß Wuotans, des alten Gottes, der die Todten abholte.<lb/>
In der Gegend von Dortmund geschah es einmal, daß ein Knabe, der die<lb/>
Gabe des zweiten Gesichts besaß, wegen irgend eines dummen Streichs von<lb/>
einem Müller Prügel bekam. &#x201E;Warte nur", sagte erbittert der Junge, &#x201E;du<lb/>
sollst hier nicht mehr lange Hausen, bald wird dich das weiße Pferd holen."<lb/>
Und so kam es denn auch. Der Müller starb nach vierzehn Tagen und<lb/>
wurde mit einem Schimmel zu Grabe gefahren.  Zu Echthausen starb die</p><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> I</head><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0370] Sarg, bisweilen auch nichts, wohl aber vernehmen sie dann, wie Bretter vom Boden geworfen oder ein Sarg zugenagelt wird. Ein Schneider oder eine Nätherin hört die Scheere „snippeln", wenn bald ein Todtenhemde angefertigt werden muß, wird in Büren behauptet. Oft sieht hier der Seher ein Feuer an einem Hause hinauflaufen, und dann muß er schnell hingehen und fühlen, ob es warm oder kalt ist. Ist es warm, so verkündigt es einen baldigen Brand, ist es kalt, so bedeutet es eine Leiche. Aehnlicher Glaube herrscht im Bremischen, wo man im letzteren Falle beob¬ achten muß, wo das anscheinend in Flammen stehende Dachstroh zuerst herabfällt; geschieht dieß auf der Vorderseite des Hauses, so stirbt binnen Jahr und Tag der Hausherr, geschieht es auf der hintern Seite, so zeigt es an, daß in derselben Frist die Hausfrau sterben wird. Von andern solchen Sehern weiß man nur, daß sie kommende Ereignisse voraussagen, aber nicht, wie sie zu dieser Kunde gelangen. So ist in Werk einmal ein Knecht ge¬ wesen, der hat es jedesmal vorausgewußt, wenn einer sterben sollte. Er merkte es, wenn der Pastor in's Haus trat, aber woran, hat er nicht sagen wollen. Je später nach Mitternacht man eine Vorgeschichte wahrnimmt, desto rascher, je früher vor Mitternacht man sie schaut, desto später tritt das betreffende Ereigniß ein. Sieht man sich in einem gespenstischen Leichenzuge nicht selbst, so kann es sein, daß man bald sterben muß. Schon Mancher hat sich selbst im Sarge liegen sehen. Es ist ferner vorgekommen, daß von zwei Personen, die mit einander des Nachts über die Straße gingen, der eine ihnen blos einen Leichenzug entgegenschreiten sah, während der andere die Vorgeschichte schaute. Jener warnt: „Geh aus dem Wege." — „Warum?" fragt der Andere, und in demselben Augenblicke rennt er an den Sarg an und stürzt von dem Stoße zu Boden. Nun sieht auch der Erste nichts mehr. Bisweilen täuschen sich die Vorgeschichtenseher über die Bedeutung des von ihnen Geschauten. In der Pfarre zu Siddinghausen erblickte der Knecht eines Tages einen Sarg auf der Hausflur, und glaubte, derselbe zeige den baldigen Tod der kranken Haushälterin an, aber sie wurde gesund, während er selbst nach kurzer Zeit starb. Auffallen kann, daß vor den Leichenwagen, der den Sehern erscheint, ge¬ wöhnlich ein Schimmel gespannt ist, es ist aber nur ein Nachhall des Glaubens an das weiße Roß Wuotans, des alten Gottes, der die Todten abholte. In der Gegend von Dortmund geschah es einmal, daß ein Knabe, der die Gabe des zweiten Gesichts besaß, wegen irgend eines dummen Streichs von einem Müller Prügel bekam. „Warte nur", sagte erbittert der Junge, „du sollst hier nicht mehr lange Hausen, bald wird dich das weiße Pferd holen." Und so kam es denn auch. Der Müller starb nach vierzehn Tagen und wurde mit einem Schimmel zu Grabe gefahren. Zu Echthausen starb die I

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/370
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/370>, abgerufen am 29.04.2024.