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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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Neueste Dichtungen von Friedrich Bodenstedt. "Einkehr und
Umschau." Zweite Auflage. Jena, Costenoble, 1876.

Der verjüngende Einfluß des Musendienstes zeigt sich in erfreulicher Weise an
dem Sänger, welchem wir die Lieder des Mirza-Schaffy verdanken. Nach einer
harten Jugend hat sich Bodenstedt im Mannesalter eine Stellung unter den Besten
unserer modernen Literatur errungen. Daß nicht nur der Sommer, sondern
auch der Herbst dem Dichter die Blumen der Poesie entgegenstreut, beweist
die jüngsterschienene Sammlung von Bodenstedt's neuesten Gedichten, "Ein¬
kehr und Umschau", die bereits in zweiter Auflage vorliegt und von der
Verlagsbuchhandlung (Hermann Costenoble in Jena) in geschmackvoller
Weise ausgestattet ist. Die poetische Gabe, welche Bodenstedt liefert, erscheint
jedoch nicht nur äußerlich im Festgewande, sondern besitzt auch in ihrem In¬
halte Etwas, das an die Stimmung der nahenden Feiertage erinnert. Es
ist eine Welt der Liebe und Versöhnung in welcher man schreitet.

Nach der tiefempfundenen und formenschönen "Widmung" fühlt der Leser
bereits in der ersten Abtheilung, "Vorklänge", Herz und Gemüth angenehm
berührt. Hier zeigt sich Bodenstedt namentlich als Meister in prächtigen
Stimmungsbildern von tiefsinnigen Ernste oder schalkhaftem Humor. Bilder
aus Natur und Geschichte ziehen in fröhlichem Wechsel an uns vorüber, und
wenn auch der deutsche Rhein und das neue deutsche Reich in gewohnter
Weise ihre Beisteuer liefern müssen, so geht doch der Dichter mit bewußter
Absicht der Phrase aus dem Wege. Von ähnlichen Gesichtspunkten aus,
jedoch mit größerer geistiger Vertiefung werden in dem zweiten Abschnitte,
"Aus Thüringens Wäldern", eigene Erlebnisse des Dichters, sowie Vorgänge
"us der umgebenden Welt poetisch behandelt. Bodenstedt hat eine strenge
Schule des Leidens durchgemacht, aber das Unglück hat ihn nicht darnieder¬
gebeugt, sondern seine Kraft gestählt und ihn in seinem Glauben an die
siegreiche Macht des Idealen nur noch bestärkt. Er empfindet die Schmerzen
der Welt mit feinbesaitetem Gemüthe, aber er will nicht, wie andere Dichter,
dämonisch in diesem Elemente herumwühlen, sondern er sucht zum Heil der
Menschheit den erlösenden Weg aus der Nacht zum Licht. Eine festbe¬
gründete Weltanschauung spricht mit stolzem Selbstbewußtsein aus diesen
^dichten und wird mit ihrer geisterfüllten Klarheit gewiß zahlreiche Anhänger
finden. Die "Erzählenden Gedichte" behandeln theils anekdotische, theils
historische Stoffe und umfassen alle Jahrhunderte vom grauen Alterthume
der Semiramis bis zum Kulturkampfe der Gegenwart. Den vollendetsten
künstlerischen Guß haben diejenigen Gedichte, welche wie "Sokrates" das
Geschichtliche mit dem sagenhaften verbinden, während andere durch eine
'^Nische oder tendenziöse Haltung das Historische in seinem objectiven Werthe
^einträchtigen. Ein reizender philosophischer Dialog ist das Fragment "Die


Neueste Dichtungen von Friedrich Bodenstedt. „Einkehr und
Umschau." Zweite Auflage. Jena, Costenoble, 1876.

Der verjüngende Einfluß des Musendienstes zeigt sich in erfreulicher Weise an
dem Sänger, welchem wir die Lieder des Mirza-Schaffy verdanken. Nach einer
harten Jugend hat sich Bodenstedt im Mannesalter eine Stellung unter den Besten
unserer modernen Literatur errungen. Daß nicht nur der Sommer, sondern
auch der Herbst dem Dichter die Blumen der Poesie entgegenstreut, beweist
die jüngsterschienene Sammlung von Bodenstedt's neuesten Gedichten, „Ein¬
kehr und Umschau", die bereits in zweiter Auflage vorliegt und von der
Verlagsbuchhandlung (Hermann Costenoble in Jena) in geschmackvoller
Weise ausgestattet ist. Die poetische Gabe, welche Bodenstedt liefert, erscheint
jedoch nicht nur äußerlich im Festgewande, sondern besitzt auch in ihrem In¬
halte Etwas, das an die Stimmung der nahenden Feiertage erinnert. Es
ist eine Welt der Liebe und Versöhnung in welcher man schreitet.

Nach der tiefempfundenen und formenschönen „Widmung" fühlt der Leser
bereits in der ersten Abtheilung, „Vorklänge", Herz und Gemüth angenehm
berührt. Hier zeigt sich Bodenstedt namentlich als Meister in prächtigen
Stimmungsbildern von tiefsinnigen Ernste oder schalkhaftem Humor. Bilder
aus Natur und Geschichte ziehen in fröhlichem Wechsel an uns vorüber, und
wenn auch der deutsche Rhein und das neue deutsche Reich in gewohnter
Weise ihre Beisteuer liefern müssen, so geht doch der Dichter mit bewußter
Absicht der Phrase aus dem Wege. Von ähnlichen Gesichtspunkten aus,
jedoch mit größerer geistiger Vertiefung werden in dem zweiten Abschnitte,
»Aus Thüringens Wäldern", eigene Erlebnisse des Dichters, sowie Vorgänge
«us der umgebenden Welt poetisch behandelt. Bodenstedt hat eine strenge
Schule des Leidens durchgemacht, aber das Unglück hat ihn nicht darnieder¬
gebeugt, sondern seine Kraft gestählt und ihn in seinem Glauben an die
siegreiche Macht des Idealen nur noch bestärkt. Er empfindet die Schmerzen
der Welt mit feinbesaitetem Gemüthe, aber er will nicht, wie andere Dichter,
dämonisch in diesem Elemente herumwühlen, sondern er sucht zum Heil der
Menschheit den erlösenden Weg aus der Nacht zum Licht. Eine festbe¬
gründete Weltanschauung spricht mit stolzem Selbstbewußtsein aus diesen
^dichten und wird mit ihrer geisterfüllten Klarheit gewiß zahlreiche Anhänger
finden. Die „Erzählenden Gedichte" behandeln theils anekdotische, theils
historische Stoffe und umfassen alle Jahrhunderte vom grauen Alterthume
der Semiramis bis zum Kulturkampfe der Gegenwart. Den vollendetsten
künstlerischen Guß haben diejenigen Gedichte, welche wie „Sokrates" das
Geschichtliche mit dem sagenhaften verbinden, während andere durch eine
'^Nische oder tendenziöse Haltung das Historische in seinem objectiven Werthe
^einträchtigen. Ein reizender philosophischer Dialog ist das Fragment „Die


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[0483] Neueste Dichtungen von Friedrich Bodenstedt. „Einkehr und Umschau." Zweite Auflage. Jena, Costenoble, 1876. Der verjüngende Einfluß des Musendienstes zeigt sich in erfreulicher Weise an dem Sänger, welchem wir die Lieder des Mirza-Schaffy verdanken. Nach einer harten Jugend hat sich Bodenstedt im Mannesalter eine Stellung unter den Besten unserer modernen Literatur errungen. Daß nicht nur der Sommer, sondern auch der Herbst dem Dichter die Blumen der Poesie entgegenstreut, beweist die jüngsterschienene Sammlung von Bodenstedt's neuesten Gedichten, „Ein¬ kehr und Umschau", die bereits in zweiter Auflage vorliegt und von der Verlagsbuchhandlung (Hermann Costenoble in Jena) in geschmackvoller Weise ausgestattet ist. Die poetische Gabe, welche Bodenstedt liefert, erscheint jedoch nicht nur äußerlich im Festgewande, sondern besitzt auch in ihrem In¬ halte Etwas, das an die Stimmung der nahenden Feiertage erinnert. Es ist eine Welt der Liebe und Versöhnung in welcher man schreitet. Nach der tiefempfundenen und formenschönen „Widmung" fühlt der Leser bereits in der ersten Abtheilung, „Vorklänge", Herz und Gemüth angenehm berührt. Hier zeigt sich Bodenstedt namentlich als Meister in prächtigen Stimmungsbildern von tiefsinnigen Ernste oder schalkhaftem Humor. Bilder aus Natur und Geschichte ziehen in fröhlichem Wechsel an uns vorüber, und wenn auch der deutsche Rhein und das neue deutsche Reich in gewohnter Weise ihre Beisteuer liefern müssen, so geht doch der Dichter mit bewußter Absicht der Phrase aus dem Wege. Von ähnlichen Gesichtspunkten aus, jedoch mit größerer geistiger Vertiefung werden in dem zweiten Abschnitte, »Aus Thüringens Wäldern", eigene Erlebnisse des Dichters, sowie Vorgänge «us der umgebenden Welt poetisch behandelt. Bodenstedt hat eine strenge Schule des Leidens durchgemacht, aber das Unglück hat ihn nicht darnieder¬ gebeugt, sondern seine Kraft gestählt und ihn in seinem Glauben an die siegreiche Macht des Idealen nur noch bestärkt. Er empfindet die Schmerzen der Welt mit feinbesaitetem Gemüthe, aber er will nicht, wie andere Dichter, dämonisch in diesem Elemente herumwühlen, sondern er sucht zum Heil der Menschheit den erlösenden Weg aus der Nacht zum Licht. Eine festbe¬ gründete Weltanschauung spricht mit stolzem Selbstbewußtsein aus diesen ^dichten und wird mit ihrer geisterfüllten Klarheit gewiß zahlreiche Anhänger finden. Die „Erzählenden Gedichte" behandeln theils anekdotische, theils historische Stoffe und umfassen alle Jahrhunderte vom grauen Alterthume der Semiramis bis zum Kulturkampfe der Gegenwart. Den vollendetsten künstlerischen Guß haben diejenigen Gedichte, welche wie „Sokrates" das Geschichtliche mit dem sagenhaften verbinden, während andere durch eine '^Nische oder tendenziöse Haltung das Historische in seinem objectiven Werthe ^einträchtigen. Ein reizender philosophischer Dialog ist das Fragment „Die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/483>, abgerufen am 29.04.2024.