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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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"Menschenspülicht" sind noch lange nicht die schlimmsten. Daß der Verfasser
bei manchen seiner Bemerkungen und Urtheile im Grunde Recht hat, soll
nicht in Abrede gestellt werden, nur salbadert er sich immer in arge Ueber¬
treibung hinein, und auch, wo er etwas Bekanntes und Anerkanntes vor¬
bringt, muß er es in dem Gemisch von Pomp und Rohheit sagen, von dem
er offenbar wähnt, es sei die Sprache des großen Mannes. Auch er leidet,
wie uns dünkt, am Größenwahn, aber es scheint, daß das Publicum ihn
verdorben hat, indem es das Bramarbasiren des Polyhistors für echte sitt¬
liche Entrüstung hielt, während es doch nichts anderes als der Geschäftsstil
eines literarischen Vielschreibers war.


Gründerprocesse. Eine criminalpolitische Studie von Justinus Moeller.
Berlin, I. Springer. 1876.

Erklärt sich mit heißer Entrüstung und in bilderreicher Sprache gegen
die Anwendung des Betrugsparagraphen (§. 263) des neuen deutschen Straf¬
gesetzbuchs auf das Treiben der Gründer. Das Resultat, zu dem er nach
allerlei Tiraden gegen Staatsanwälte und Delatoren der Preßpiratenschaft
gelangt, ist ungefähr folgendes: Die Gründungsseuche ist eine Krankheit der
Zeit; sie ist nicht die Ursache, sondern nur eins der Symptome der Urge-
sundheit unseres wirthschaftlichen Organismus; sehr viele Gründer haben in
gutem Glauben gehandelt, sie hielten ihr Verfahren für erlaubt, und so darf
man sie nicht als Betrüger behandeln. "Die Heranziehung des Betrugs¬
paragraphen in die Therapie des Gründungswesens ist eine im höchsten
Grade gefährliche Maßregel. Sie öffnet dem gewerbsmäßigen Denuncianten-
thum Thür und Thor, züchtet den straflosen Metneid und trifft mit dem
Schuldigen ein Heer von Unschuldigen, deren einziges Vergehen allein darin besteht,
daß sie einer Wahnvorstellung ihrer Zeit sich kritiklos hingegeben." Welche
Phrasen! Ob sich die Staatsanwälte und die Richter wohl an diesen senti-
malen Propheten kehren und sich fürchten werden "Märtyrer zu schaffen?"
Wir denken, nicht, und werden uns jedes Mal freuen, wenn wieder einen
der Schwindler der letzten Jahre für die "Wahnvorstellung", straflos schwindeln
zu dürfen, die gebührende Strafe trifft.


Dante Alligheri's Göttliche Komödie übersetzt von Karl Witte. Dritte
Ausgabe, 2 Bände. Berlin, Decker, 1876.

Diese Uebersetzung, die zuerst im Säeularjahre von Dante's Geburt er¬
schien und schon damals das Lob großer Sinntreue und ungemeinen Wohl¬
klangs verdiente, hat in dieser neuen Gestalt, die sie durch vielfache Aende¬
rungen gewonnen hat, einen nicht unwesentlich höhern Werth erlangt, so daß
wir sie, ovschon sie des Reimes entbehrt und nur die fünffüßigen Jamben
des Originals wiedergiebt, für die beste Uebertragung desselben erklären


„Menschenspülicht" sind noch lange nicht die schlimmsten. Daß der Verfasser
bei manchen seiner Bemerkungen und Urtheile im Grunde Recht hat, soll
nicht in Abrede gestellt werden, nur salbadert er sich immer in arge Ueber¬
treibung hinein, und auch, wo er etwas Bekanntes und Anerkanntes vor¬
bringt, muß er es in dem Gemisch von Pomp und Rohheit sagen, von dem
er offenbar wähnt, es sei die Sprache des großen Mannes. Auch er leidet,
wie uns dünkt, am Größenwahn, aber es scheint, daß das Publicum ihn
verdorben hat, indem es das Bramarbasiren des Polyhistors für echte sitt¬
liche Entrüstung hielt, während es doch nichts anderes als der Geschäftsstil
eines literarischen Vielschreibers war.


Gründerprocesse. Eine criminalpolitische Studie von Justinus Moeller.
Berlin, I. Springer. 1876.

Erklärt sich mit heißer Entrüstung und in bilderreicher Sprache gegen
die Anwendung des Betrugsparagraphen (§. 263) des neuen deutschen Straf¬
gesetzbuchs auf das Treiben der Gründer. Das Resultat, zu dem er nach
allerlei Tiraden gegen Staatsanwälte und Delatoren der Preßpiratenschaft
gelangt, ist ungefähr folgendes: Die Gründungsseuche ist eine Krankheit der
Zeit; sie ist nicht die Ursache, sondern nur eins der Symptome der Urge-
sundheit unseres wirthschaftlichen Organismus; sehr viele Gründer haben in
gutem Glauben gehandelt, sie hielten ihr Verfahren für erlaubt, und so darf
man sie nicht als Betrüger behandeln. „Die Heranziehung des Betrugs¬
paragraphen in die Therapie des Gründungswesens ist eine im höchsten
Grade gefährliche Maßregel. Sie öffnet dem gewerbsmäßigen Denuncianten-
thum Thür und Thor, züchtet den straflosen Metneid und trifft mit dem
Schuldigen ein Heer von Unschuldigen, deren einziges Vergehen allein darin besteht,
daß sie einer Wahnvorstellung ihrer Zeit sich kritiklos hingegeben." Welche
Phrasen! Ob sich die Staatsanwälte und die Richter wohl an diesen senti-
malen Propheten kehren und sich fürchten werden „Märtyrer zu schaffen?"
Wir denken, nicht, und werden uns jedes Mal freuen, wenn wieder einen
der Schwindler der letzten Jahre für die „Wahnvorstellung", straflos schwindeln
zu dürfen, die gebührende Strafe trifft.


Dante Alligheri's Göttliche Komödie übersetzt von Karl Witte. Dritte
Ausgabe, 2 Bände. Berlin, Decker, 1876.

Diese Uebersetzung, die zuerst im Säeularjahre von Dante's Geburt er¬
schien und schon damals das Lob großer Sinntreue und ungemeinen Wohl¬
klangs verdiente, hat in dieser neuen Gestalt, die sie durch vielfache Aende¬
rungen gewonnen hat, einen nicht unwesentlich höhern Werth erlangt, so daß
wir sie, ovschon sie des Reimes entbehrt und nur die fünffüßigen Jamben
des Originals wiedergiebt, für die beste Uebertragung desselben erklären


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/83>, abgerufen am 29.04.2024.