Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

als ob sie unmittelbar aus dem Volksmunde kämen. Einige, wie die Proze߬
geschichte "Aus den Tagen des Streites," zeigen einen recht ansprechenden Hu¬
mor. Andere, wie "Der Fluch einer Braut" sind düstrer Natur. Besonders
angesprochen haben uns "Das Pestmännlein," "Bet, Kindle, bet, jetzund
kommt der Schwed" und "der gaugende Schuster" (Der ewige Jude). Ein
Schlußkapitel, welches sich "Ein Sommerfrischleben" nennt, enthält allerlei
touristische Plaudereien über Land und Leute in der Gegend vou Insbruck
und Botzen.


Neue Schweizerbilder. Erzählungen von Jakob Frey. Bern, Verlag
von G. Frobeen. 1377.

Der vor etwa Jahresfrist verstorbene Verfasser dieser vier Novellen ist
eine der bedeutendsten poetischen Schriftsteller der Schweiz. Mag er Gottfried
Keller an plastischer Kraft und realistischem Humor einigermaßen nachstehen,
so ist er ihm an schöner Menschlichkeit, an Seele und an künstlerischer Technik,
namentlich aber an jenem schwer zu definirenden Etwas überlegen, was wir
Stimmung nennen. Sein historischer Roman "Die Waise von Holliger" ist
unbestritten die beste Leistung, welche die schweizerische Literatur aufzuweisen
hat, und in der ersten Sammlung seiner kleineren Erzählungen "Zwischen
Jura und Alpen," die 1858 bei I. I. Weber erschien, sowie in der zweiten,
die sich "Schweizerbilder" nannte und 1864 bei Sauerländer herauskam, be¬
gegnen wir mehreren Stücke, die als Meisterwerke bezeichnet werden dürfen.
Namentlich mit der Dorfgeschichte "Der Alpenwald" steht er mit den gefeiertsten
Namen dieses Genres vollkommen auf gleicher Höhe. Auch in diesen neuen
Schweizerbildern haben wir großentheils sehr anziehende Schöpfungen des da¬
hingegangenen Novellisten vor uns. "Der letzte Hirt im Dorfe" und "Der
Verbrecher in Gedanken" sind ungemein ergreifende Erzählungen, die sich durch
Einfachheit und Wahrheit der Erfindung, echte, tiefe Empfindung und große
Kraft und Schönheit der Seelenzeichnung, sowie jene Knappheit des Styls
auszeichnen, die gerade durch das, was nur angedeutet wird, den Meister zeigt.
Ueberall begegnen wir feiner Charakteristik, einer schönen Wärme und einer
großen Beherrschung der Sprache. Häufig durchspielt seine Schöpfungen ein
düstrer, wehmüthiger Ton, als traure er über die Herbheit des Geschickes, das
er uns vorführt; es ist aber keine krankhafte Sentimentalität, in die seine
Feder sich taucht, sondern wahres tiefes Gefühl, welches die Gestalten der
Dichtung wie Goldgrund umschwimmt. Wir empfehlen das kleine Buch den
Lesern d. Bl. aufrichtig und angelegentlich. Sie werden von der Lectüre sich
im besten Sinne erbaut und gehoben fühlen. Schließlich sei noch bemerkt, daß
noch eine weitere Sammlung von Erzählungen Frey's in Aussicht steht.




Verantwortlicher Redacteur- or. Hans Vlum in Leipzig.
Verlag von F. L. Hcrvig in Leipzig. -- Druck von Hiithel Herrmann in Leipzig.

als ob sie unmittelbar aus dem Volksmunde kämen. Einige, wie die Proze߬
geschichte „Aus den Tagen des Streites," zeigen einen recht ansprechenden Hu¬
mor. Andere, wie „Der Fluch einer Braut" sind düstrer Natur. Besonders
angesprochen haben uns „Das Pestmännlein," „Bet, Kindle, bet, jetzund
kommt der Schwed" und „der gaugende Schuster" (Der ewige Jude). Ein
Schlußkapitel, welches sich „Ein Sommerfrischleben" nennt, enthält allerlei
touristische Plaudereien über Land und Leute in der Gegend vou Insbruck
und Botzen.


Neue Schweizerbilder. Erzählungen von Jakob Frey. Bern, Verlag
von G. Frobeen. 1377.

Der vor etwa Jahresfrist verstorbene Verfasser dieser vier Novellen ist
eine der bedeutendsten poetischen Schriftsteller der Schweiz. Mag er Gottfried
Keller an plastischer Kraft und realistischem Humor einigermaßen nachstehen,
so ist er ihm an schöner Menschlichkeit, an Seele und an künstlerischer Technik,
namentlich aber an jenem schwer zu definirenden Etwas überlegen, was wir
Stimmung nennen. Sein historischer Roman „Die Waise von Holliger" ist
unbestritten die beste Leistung, welche die schweizerische Literatur aufzuweisen
hat, und in der ersten Sammlung seiner kleineren Erzählungen „Zwischen
Jura und Alpen," die 1858 bei I. I. Weber erschien, sowie in der zweiten,
die sich „Schweizerbilder" nannte und 1864 bei Sauerländer herauskam, be¬
gegnen wir mehreren Stücke, die als Meisterwerke bezeichnet werden dürfen.
Namentlich mit der Dorfgeschichte „Der Alpenwald" steht er mit den gefeiertsten
Namen dieses Genres vollkommen auf gleicher Höhe. Auch in diesen neuen
Schweizerbildern haben wir großentheils sehr anziehende Schöpfungen des da¬
hingegangenen Novellisten vor uns. „Der letzte Hirt im Dorfe" und „Der
Verbrecher in Gedanken" sind ungemein ergreifende Erzählungen, die sich durch
Einfachheit und Wahrheit der Erfindung, echte, tiefe Empfindung und große
Kraft und Schönheit der Seelenzeichnung, sowie jene Knappheit des Styls
auszeichnen, die gerade durch das, was nur angedeutet wird, den Meister zeigt.
Ueberall begegnen wir feiner Charakteristik, einer schönen Wärme und einer
großen Beherrschung der Sprache. Häufig durchspielt seine Schöpfungen ein
düstrer, wehmüthiger Ton, als traure er über die Herbheit des Geschickes, das
er uns vorführt; es ist aber keine krankhafte Sentimentalität, in die seine
Feder sich taucht, sondern wahres tiefes Gefühl, welches die Gestalten der
Dichtung wie Goldgrund umschwimmt. Wir empfehlen das kleine Buch den
Lesern d. Bl. aufrichtig und angelegentlich. Sie werden von der Lectüre sich
im besten Sinne erbaut und gehoben fühlen. Schließlich sei noch bemerkt, daß
noch eine weitere Sammlung von Erzählungen Frey's in Aussicht steht.




Verantwortlicher Redacteur- or. Hans Vlum in Leipzig.
Verlag von F. L. Hcrvig in Leipzig. — Druck von Hiithel Herrmann in Leipzig.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0088" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/137261"/>
            <p xml:id="ID_335" prev="#ID_334"> als ob sie unmittelbar aus dem Volksmunde kämen. Einige, wie die Proze߬<lb/>
geschichte &#x201E;Aus den Tagen des Streites," zeigen einen recht ansprechenden Hu¬<lb/>
mor. Andere, wie &#x201E;Der Fluch einer Braut" sind düstrer Natur. Besonders<lb/>
angesprochen haben uns &#x201E;Das Pestmännlein," &#x201E;Bet, Kindle, bet, jetzund<lb/>
kommt der Schwed" und &#x201E;der gaugende Schuster" (Der ewige Jude). Ein<lb/>
Schlußkapitel, welches sich &#x201E;Ein Sommerfrischleben" nennt, enthält allerlei<lb/>
touristische Plaudereien über Land und Leute in der Gegend vou Insbruck<lb/>
und Botzen.</p><lb/>
          </div>
          <div n="2">
            <head> Neue Schweizerbilder.  Erzählungen von Jakob Frey.  Bern, Verlag<lb/>
von G. Frobeen. 1377.</head><lb/>
            <p xml:id="ID_336"> Der vor etwa Jahresfrist verstorbene Verfasser dieser vier Novellen ist<lb/>
eine der bedeutendsten poetischen Schriftsteller der Schweiz. Mag er Gottfried<lb/>
Keller an plastischer Kraft und realistischem Humor einigermaßen nachstehen,<lb/>
so ist er ihm an schöner Menschlichkeit, an Seele und an künstlerischer Technik,<lb/>
namentlich aber an jenem schwer zu definirenden Etwas überlegen, was wir<lb/>
Stimmung nennen. Sein historischer Roman &#x201E;Die Waise von Holliger" ist<lb/>
unbestritten die beste Leistung, welche die schweizerische Literatur aufzuweisen<lb/>
hat, und in der ersten Sammlung seiner kleineren Erzählungen &#x201E;Zwischen<lb/>
Jura und Alpen," die 1858 bei I. I. Weber erschien, sowie in der zweiten,<lb/>
die sich &#x201E;Schweizerbilder" nannte und 1864 bei Sauerländer herauskam, be¬<lb/>
gegnen wir mehreren Stücke, die als Meisterwerke bezeichnet werden dürfen.<lb/>
Namentlich mit der Dorfgeschichte &#x201E;Der Alpenwald" steht er mit den gefeiertsten<lb/>
Namen dieses Genres vollkommen auf gleicher Höhe. Auch in diesen neuen<lb/>
Schweizerbildern haben wir großentheils sehr anziehende Schöpfungen des da¬<lb/>
hingegangenen Novellisten vor uns. &#x201E;Der letzte Hirt im Dorfe" und &#x201E;Der<lb/>
Verbrecher in Gedanken" sind ungemein ergreifende Erzählungen, die sich durch<lb/>
Einfachheit und Wahrheit der Erfindung, echte, tiefe Empfindung und große<lb/>
Kraft und Schönheit der Seelenzeichnung, sowie jene Knappheit des Styls<lb/>
auszeichnen, die gerade durch das, was nur angedeutet wird, den Meister zeigt.<lb/>
Ueberall begegnen wir feiner Charakteristik, einer schönen Wärme und einer<lb/>
großen Beherrschung der Sprache. Häufig durchspielt seine Schöpfungen ein<lb/>
düstrer, wehmüthiger Ton, als traure er über die Herbheit des Geschickes, das<lb/>
er uns vorführt; es ist aber keine krankhafte Sentimentalität, in die seine<lb/>
Feder sich taucht, sondern wahres tiefes Gefühl, welches die Gestalten der<lb/>
Dichtung wie Goldgrund umschwimmt. Wir empfehlen das kleine Buch den<lb/>
Lesern d. Bl. aufrichtig und angelegentlich. Sie werden von der Lectüre sich<lb/>
im besten Sinne erbaut und gehoben fühlen. Schließlich sei noch bemerkt, daß<lb/>
noch eine weitere Sammlung von Erzählungen Frey's in Aussicht steht.</p><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
            <note type="byline"> Verantwortlicher Redacteur- or. Hans Vlum in Leipzig.<lb/>
Verlag von F. L. Hcrvig in Leipzig. &#x2014; Druck von Hiithel  Herrmann in Leipzig.</note><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0088] als ob sie unmittelbar aus dem Volksmunde kämen. Einige, wie die Proze߬ geschichte „Aus den Tagen des Streites," zeigen einen recht ansprechenden Hu¬ mor. Andere, wie „Der Fluch einer Braut" sind düstrer Natur. Besonders angesprochen haben uns „Das Pestmännlein," „Bet, Kindle, bet, jetzund kommt der Schwed" und „der gaugende Schuster" (Der ewige Jude). Ein Schlußkapitel, welches sich „Ein Sommerfrischleben" nennt, enthält allerlei touristische Plaudereien über Land und Leute in der Gegend vou Insbruck und Botzen. Neue Schweizerbilder. Erzählungen von Jakob Frey. Bern, Verlag von G. Frobeen. 1377. Der vor etwa Jahresfrist verstorbene Verfasser dieser vier Novellen ist eine der bedeutendsten poetischen Schriftsteller der Schweiz. Mag er Gottfried Keller an plastischer Kraft und realistischem Humor einigermaßen nachstehen, so ist er ihm an schöner Menschlichkeit, an Seele und an künstlerischer Technik, namentlich aber an jenem schwer zu definirenden Etwas überlegen, was wir Stimmung nennen. Sein historischer Roman „Die Waise von Holliger" ist unbestritten die beste Leistung, welche die schweizerische Literatur aufzuweisen hat, und in der ersten Sammlung seiner kleineren Erzählungen „Zwischen Jura und Alpen," die 1858 bei I. I. Weber erschien, sowie in der zweiten, die sich „Schweizerbilder" nannte und 1864 bei Sauerländer herauskam, be¬ gegnen wir mehreren Stücke, die als Meisterwerke bezeichnet werden dürfen. Namentlich mit der Dorfgeschichte „Der Alpenwald" steht er mit den gefeiertsten Namen dieses Genres vollkommen auf gleicher Höhe. Auch in diesen neuen Schweizerbildern haben wir großentheils sehr anziehende Schöpfungen des da¬ hingegangenen Novellisten vor uns. „Der letzte Hirt im Dorfe" und „Der Verbrecher in Gedanken" sind ungemein ergreifende Erzählungen, die sich durch Einfachheit und Wahrheit der Erfindung, echte, tiefe Empfindung und große Kraft und Schönheit der Seelenzeichnung, sowie jene Knappheit des Styls auszeichnen, die gerade durch das, was nur angedeutet wird, den Meister zeigt. Ueberall begegnen wir feiner Charakteristik, einer schönen Wärme und einer großen Beherrschung der Sprache. Häufig durchspielt seine Schöpfungen ein düstrer, wehmüthiger Ton, als traure er über die Herbheit des Geschickes, das er uns vorführt; es ist aber keine krankhafte Sentimentalität, in die seine Feder sich taucht, sondern wahres tiefes Gefühl, welches die Gestalten der Dichtung wie Goldgrund umschwimmt. Wir empfehlen das kleine Buch den Lesern d. Bl. aufrichtig und angelegentlich. Sie werden von der Lectüre sich im besten Sinne erbaut und gehoben fühlen. Schließlich sei noch bemerkt, daß noch eine weitere Sammlung von Erzählungen Frey's in Aussicht steht. Verantwortlicher Redacteur- or. Hans Vlum in Leipzig. Verlag von F. L. Hcrvig in Leipzig. — Druck von Hiithel Herrmann in Leipzig.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/88
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/88>, abgerufen am 03.05.2024.