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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

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Dom Keichstage.

Schneller, als man erwartet, hat der Reichstag in der verflossenen Woche
seine Arbeiten zu Ende geführt. Die Sehnsucht nach dem Schluß hatte sich
in den letzten Tagen der Saison zu einem wahren Fanatismus gesteigert.
Leute, die das Gras wachsen hören, vermutheten dahinter einen Verlegenheits¬
coup der Parteiführer, um die durch die wirthschaftlichen Fragen angeblich in
volle Zersetzung gerathenen Parteien vor dem gänzlichen Auseinanderfallen zu
bewahren. Ganz abgesehen davon, daß jene Zersetzung bis jetzt lediglich in
der Phantasie einiger ungeduldigen Reaktionäre existirt, bedarf es wahrlich
keines besondern Scharfsinnes, um die auf der Hand liegenden wahren Grüude
des Zuendeeilens zu erkennen. Die Männer, welche die eigentliche Last der Arbeit im
Reichstage zu tragen haben, sind fast durchweg zugleich Mitglieder der betreffenden
Einzellandtage; sie haben außer einer sechsmonatlichen parlamentarischen Cam¬
pagne eine lange, mühevolle und aufreibende Thätigkeit in der Wahlbewegung
hinter sich -- was Wunder, wenn sich ihnen das Bedürfniß der Ruhe und
das Verlangen nach der Rückkehr zu den häuslichen Geschäften bis zu jener
Nervosität steigerte, welche das sichere Anzeichen der demnächst erreichten Grenze
der Leistungsfähigkeit W Zudem war das Pensum, soweit es dringlich war,
aufgearbeitet. Das hastige Tempo der beiden letzten Sitzungen hat nichts ge¬
schadet; über die am Schlnßtage in sämmtlichen drei Lesungen berathene und
angenommene Vorlage wegen Herstellung einer Verbindung zwischen der
lothringischen und der Saarbahn war schlechterdings nicht viel zu sagen, und
was den neuen Grundstückserwerb für das Reich in Berlin anlangt, so ist der
Redelust bezüglich desselben wahrlich keine' ungebührliche Schranke angethan
worden. Selbst der unvermeidliche "vethlehemitische Kindermord" ist diesmal
glimpflicher verlaufen als sonst; fand man doch in der vorletzten Sitzung noch
Zeit, lange Reden gegen den Impfzwang anzuhören! Von hervorragender
Wichtigkeit hätten, nachdem die Kasernirungsvorlage schon früher eliminirt war,
nur noch die beiden zusammengehörigen Gesetzentwürfe, betreffend die Ver¬
waltung der Einnahmen und Ausgaben des Reichs und die Errichtung eines
Reichsrechnuugshofes, sein können. Es ist bekannt, wie oft schon dieser Ver¬
such einer Codification des Etatrechts an der mangelnden Nachgiebigkeit der
Regierung gescheitert ist. Diesmal hatten sich die größeren Fraktionen -- nur
die Fortschrittspartei hatte sich ausgeschlossen -- nnter der Hand über einen der
Regierung vorzuschlagenden Compromiß verständigt; der Regierung aber erschien
unerfüllbar, was selbst deu entschiedensten Conservativen als das Minimum dessen


Dom Keichstage.

Schneller, als man erwartet, hat der Reichstag in der verflossenen Woche
seine Arbeiten zu Ende geführt. Die Sehnsucht nach dem Schluß hatte sich
in den letzten Tagen der Saison zu einem wahren Fanatismus gesteigert.
Leute, die das Gras wachsen hören, vermutheten dahinter einen Verlegenheits¬
coup der Parteiführer, um die durch die wirthschaftlichen Fragen angeblich in
volle Zersetzung gerathenen Parteien vor dem gänzlichen Auseinanderfallen zu
bewahren. Ganz abgesehen davon, daß jene Zersetzung bis jetzt lediglich in
der Phantasie einiger ungeduldigen Reaktionäre existirt, bedarf es wahrlich
keines besondern Scharfsinnes, um die auf der Hand liegenden wahren Grüude
des Zuendeeilens zu erkennen. Die Männer, welche die eigentliche Last der Arbeit im
Reichstage zu tragen haben, sind fast durchweg zugleich Mitglieder der betreffenden
Einzellandtage; sie haben außer einer sechsmonatlichen parlamentarischen Cam¬
pagne eine lange, mühevolle und aufreibende Thätigkeit in der Wahlbewegung
hinter sich — was Wunder, wenn sich ihnen das Bedürfniß der Ruhe und
das Verlangen nach der Rückkehr zu den häuslichen Geschäften bis zu jener
Nervosität steigerte, welche das sichere Anzeichen der demnächst erreichten Grenze
der Leistungsfähigkeit W Zudem war das Pensum, soweit es dringlich war,
aufgearbeitet. Das hastige Tempo der beiden letzten Sitzungen hat nichts ge¬
schadet; über die am Schlnßtage in sämmtlichen drei Lesungen berathene und
angenommene Vorlage wegen Herstellung einer Verbindung zwischen der
lothringischen und der Saarbahn war schlechterdings nicht viel zu sagen, und
was den neuen Grundstückserwerb für das Reich in Berlin anlangt, so ist der
Redelust bezüglich desselben wahrlich keine' ungebührliche Schranke angethan
worden. Selbst der unvermeidliche „vethlehemitische Kindermord" ist diesmal
glimpflicher verlaufen als sonst; fand man doch in der vorletzten Sitzung noch
Zeit, lange Reden gegen den Impfzwang anzuhören! Von hervorragender
Wichtigkeit hätten, nachdem die Kasernirungsvorlage schon früher eliminirt war,
nur noch die beiden zusammengehörigen Gesetzentwürfe, betreffend die Ver¬
waltung der Einnahmen und Ausgaben des Reichs und die Errichtung eines
Reichsrechnuugshofes, sein können. Es ist bekannt, wie oft schon dieser Ver¬
such einer Codification des Etatrechts an der mangelnden Nachgiebigkeit der
Regierung gescheitert ist. Diesmal hatten sich die größeren Fraktionen — nur
die Fortschrittspartei hatte sich ausgeschlossen — nnter der Hand über einen der
Regierung vorzuschlagenden Compromiß verständigt; der Regierung aber erschien
unerfüllbar, was selbst deu entschiedensten Conservativen als das Minimum dessen


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[0279] Dom Keichstage. Schneller, als man erwartet, hat der Reichstag in der verflossenen Woche seine Arbeiten zu Ende geführt. Die Sehnsucht nach dem Schluß hatte sich in den letzten Tagen der Saison zu einem wahren Fanatismus gesteigert. Leute, die das Gras wachsen hören, vermutheten dahinter einen Verlegenheits¬ coup der Parteiführer, um die durch die wirthschaftlichen Fragen angeblich in volle Zersetzung gerathenen Parteien vor dem gänzlichen Auseinanderfallen zu bewahren. Ganz abgesehen davon, daß jene Zersetzung bis jetzt lediglich in der Phantasie einiger ungeduldigen Reaktionäre existirt, bedarf es wahrlich keines besondern Scharfsinnes, um die auf der Hand liegenden wahren Grüude des Zuendeeilens zu erkennen. Die Männer, welche die eigentliche Last der Arbeit im Reichstage zu tragen haben, sind fast durchweg zugleich Mitglieder der betreffenden Einzellandtage; sie haben außer einer sechsmonatlichen parlamentarischen Cam¬ pagne eine lange, mühevolle und aufreibende Thätigkeit in der Wahlbewegung hinter sich — was Wunder, wenn sich ihnen das Bedürfniß der Ruhe und das Verlangen nach der Rückkehr zu den häuslichen Geschäften bis zu jener Nervosität steigerte, welche das sichere Anzeichen der demnächst erreichten Grenze der Leistungsfähigkeit W Zudem war das Pensum, soweit es dringlich war, aufgearbeitet. Das hastige Tempo der beiden letzten Sitzungen hat nichts ge¬ schadet; über die am Schlnßtage in sämmtlichen drei Lesungen berathene und angenommene Vorlage wegen Herstellung einer Verbindung zwischen der lothringischen und der Saarbahn war schlechterdings nicht viel zu sagen, und was den neuen Grundstückserwerb für das Reich in Berlin anlangt, so ist der Redelust bezüglich desselben wahrlich keine' ungebührliche Schranke angethan worden. Selbst der unvermeidliche „vethlehemitische Kindermord" ist diesmal glimpflicher verlaufen als sonst; fand man doch in der vorletzten Sitzung noch Zeit, lange Reden gegen den Impfzwang anzuhören! Von hervorragender Wichtigkeit hätten, nachdem die Kasernirungsvorlage schon früher eliminirt war, nur noch die beiden zusammengehörigen Gesetzentwürfe, betreffend die Ver¬ waltung der Einnahmen und Ausgaben des Reichs und die Errichtung eines Reichsrechnuugshofes, sein können. Es ist bekannt, wie oft schon dieser Ver¬ such einer Codification des Etatrechts an der mangelnden Nachgiebigkeit der Regierung gescheitert ist. Diesmal hatten sich die größeren Fraktionen — nur die Fortschrittspartei hatte sich ausgeschlossen — nnter der Hand über einen der Regierung vorzuschlagenden Compromiß verständigt; der Regierung aber erschien unerfüllbar, was selbst deu entschiedensten Conservativen als das Minimum dessen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/279>, abgerufen am 26.05.2024.