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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

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die Majorität des gegenwärtigen Reichstags entschlossen ist, ans dem Gebiete
der Socialpolitik die unleugbar nothwendigen Reformen zu vollziehen, ohne
jedoch die Grundlagen der bestehenden Gesetzgebung zu verlassen. Und die ent¬
schieden abwehrende Haltung, welche die Majorität allen reaktionären Gelüsten
gegenüber nach dieser Seite hin angenommen, hat sie auch Angesichts der
gegen die bisherige Handelspolitik gerichteten Agitation bewährt. In beiden
Beziehungen ging sie prinzipiell mit der Reichsregierung zusammen; daß sich
dies EinVerständniß im Punkte der Handelspolitik im untrennbaren Zusammen¬
hange mit einer Meinungsverschiedenheit über eine Opportunitätsfrage dokn-
mentirte, ändert nichts an der Sache selbst. Das Ergebniß, welches auf diese
Weise erreicht worden, ist freilich ein vorzugsweise negatives. Die chaotische
Unsicherheit, welche Anfangs herrschte und zu ernster Besorgniß berechtigte, ist
beseitigt, die Bahn für positives Schaffen ist frei. Damit kann man aber
vorläufig zufrieden sein. Zu wünschen ist nur, daß die von der Regierung
nunmehr auszuarbeitenden Gesetzentwürfe sich im Großen und Ganzen inner¬
halb der Linien halten, durch welche nach den Verhandlungen der abgelaufenen
Session der Boden für eine ersprießliche Reformarbeit bezeichnet wird.




Literatur.
Darwin und die Sprachwissenschaft. Von Joseph Kühl. Leipzig und
Mainz, A. Lesimple's Verlag. 1877.

Zweck dieser geistvollen und auf guter Kenntniß des Gebietes der hier er¬
örterten Fragen beruhenden kleinen Schrift ist, nachzuweisen, daß die Sprach¬
wissenschaft, indem sie sich auf Darwin berief, ans einen Irrweg gerathen ist.
Die acht Kapitel des Buches gehen von der Frage aus, ob es eine Ursprache
des Menschengeschlechts gegeben habe, die entschieden bejaht wird. Dann zeigt
der Verfasser, daß und weßhalb die Spuren dieser Ursprache in den heutigen
Sprachen nicht nachgewiesen werden können, und zeichnet die Grundzüge der
Sprachentwickelung, indem er dabei immer auf die von Darwin für die Ent¬
wickelung der organischen Welt vorgebrachten Beweismittel Bezug nimmt. Von
besonderem Interesse ist die Art, wie Herr K. dem sprachlosen Urmen¬
schen Häckel's den Garaus macht. Angesichts der Verschiedenheit der auf
dem Erdenrund gesprochenen Idiome schien es unmöglich, die Spuren eines
Urquells zu entdecken, ans dem sie alle geflossen. Zwar gelang es, die große
Masse der Sprachen nach den Kontinenten und Racengebieten in Zusammen-


die Majorität des gegenwärtigen Reichstags entschlossen ist, ans dem Gebiete
der Socialpolitik die unleugbar nothwendigen Reformen zu vollziehen, ohne
jedoch die Grundlagen der bestehenden Gesetzgebung zu verlassen. Und die ent¬
schieden abwehrende Haltung, welche die Majorität allen reaktionären Gelüsten
gegenüber nach dieser Seite hin angenommen, hat sie auch Angesichts der
gegen die bisherige Handelspolitik gerichteten Agitation bewährt. In beiden
Beziehungen ging sie prinzipiell mit der Reichsregierung zusammen; daß sich
dies EinVerständniß im Punkte der Handelspolitik im untrennbaren Zusammen¬
hange mit einer Meinungsverschiedenheit über eine Opportunitätsfrage dokn-
mentirte, ändert nichts an der Sache selbst. Das Ergebniß, welches auf diese
Weise erreicht worden, ist freilich ein vorzugsweise negatives. Die chaotische
Unsicherheit, welche Anfangs herrschte und zu ernster Besorgniß berechtigte, ist
beseitigt, die Bahn für positives Schaffen ist frei. Damit kann man aber
vorläufig zufrieden sein. Zu wünschen ist nur, daß die von der Regierung
nunmehr auszuarbeitenden Gesetzentwürfe sich im Großen und Ganzen inner¬
halb der Linien halten, durch welche nach den Verhandlungen der abgelaufenen
Session der Boden für eine ersprießliche Reformarbeit bezeichnet wird.




Literatur.
Darwin und die Sprachwissenschaft. Von Joseph Kühl. Leipzig und
Mainz, A. Lesimple's Verlag. 1877.

Zweck dieser geistvollen und auf guter Kenntniß des Gebietes der hier er¬
örterten Fragen beruhenden kleinen Schrift ist, nachzuweisen, daß die Sprach¬
wissenschaft, indem sie sich auf Darwin berief, ans einen Irrweg gerathen ist.
Die acht Kapitel des Buches gehen von der Frage aus, ob es eine Ursprache
des Menschengeschlechts gegeben habe, die entschieden bejaht wird. Dann zeigt
der Verfasser, daß und weßhalb die Spuren dieser Ursprache in den heutigen
Sprachen nicht nachgewiesen werden können, und zeichnet die Grundzüge der
Sprachentwickelung, indem er dabei immer auf die von Darwin für die Ent¬
wickelung der organischen Welt vorgebrachten Beweismittel Bezug nimmt. Von
besonderem Interesse ist die Art, wie Herr K. dem sprachlosen Urmen¬
schen Häckel's den Garaus macht. Angesichts der Verschiedenheit der auf
dem Erdenrund gesprochenen Idiome schien es unmöglich, die Spuren eines
Urquells zu entdecken, ans dem sie alle geflossen. Zwar gelang es, die große
Masse der Sprachen nach den Kontinenten und Racengebieten in Zusammen-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/281>, abgerufen am 19.05.2024.