Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite
Line neue deutsche Kechtschreiöung.*)

Diese Schrift führt die Sache eines im Laufe des letzten Sommers zu¬
sammengetretenen "Vereins zur Einführung einer einfachen deutschen Ortho¬
graphie" mit dem Wahlspruch: Für jeden Laut ein Zeichen, und da ihr Ge¬
genstand in der letzten Zeit viel besprochen worden ist, so geben wir einen
ausführlichen Auszug aus den Abschnitten, die sich überhaupt zusammendrängen
lassen. Wir bemerken aber im Voraus, daß wir eine Reform auf diesem Ge¬
biet nicht für so dringend und nicht völlig in dem Maße für nothwendig
halten wie der Verfasser, den wir nun reden lassen.

Die Aufgabe der Wissenschaft ist es, die Gesetze für eine Verbesserung der
deutschen Rechtschreibung festzustellen. Die historische Begründung einer solchen
mißlang, weil das Leben der Sprache ein unaufhörliches Anderssein ist und
der Schluß von dem "So war es" auf ein "So soll es auch jetzt sein", un¬
natürlich und unlogisch war. Wir sind dadurch, daß es ein mittelhochdeutsches
Wort "würken" gab, nicht gezwungen, erwürken zu schreiben; denn wir sprechen
erwirken. Die historische Sprachforschung selbst hat dargethan, daß die Deut¬
schen zu allen Zeiten bemüht waren, phonetisch zu schreiben, d. h. den Laut,
nicht etwa die Abstammung, durch entsprechende Zeichen darzustellen, wobei
freilich keine Provinz und kein Jahrhundert mit den andern übereinstimmte.
Der Buchstabe hat keinen andern Beruf, als den Laut zu malen, wie der Laut
den Begriff erklingen läßt, folglich richtet sich der Laut nach dem Begriffe und
der Buchstabe, soll er seinem eigensten Wesen nicht widersprechen, nach dem
Laute. Eine Rechtschreibung ist um so vollkommener, je mehr sie dieses Gesetz
verwirklicht. Aber das phonetische Prinzip stützt sich auf Etwas, das noch nicht
existirt. Jeder deutsche Stamm, ja jede Stadt spricht anders, und so müssen
wir erst die Sprechung regeln, ehe wir eine allgemein giltige natürliche
Schreibung zu erzielen im Stande sind.



*) Die Orthographie nach den im Bau der deutschen Sprache liegenden
Gesetzen in wissenschaftlicher, pädagogischer und praktischer Beziehung dargestellt von Dr.
F- W. Fr late. Bremen, Verlag von J> Kuhtmann's Buchhandlung, 1877.
Grenzboten II. 1877. so
Line neue deutsche Kechtschreiöung.*)

Diese Schrift führt die Sache eines im Laufe des letzten Sommers zu¬
sammengetretenen „Vereins zur Einführung einer einfachen deutschen Ortho¬
graphie" mit dem Wahlspruch: Für jeden Laut ein Zeichen, und da ihr Ge¬
genstand in der letzten Zeit viel besprochen worden ist, so geben wir einen
ausführlichen Auszug aus den Abschnitten, die sich überhaupt zusammendrängen
lassen. Wir bemerken aber im Voraus, daß wir eine Reform auf diesem Ge¬
biet nicht für so dringend und nicht völlig in dem Maße für nothwendig
halten wie der Verfasser, den wir nun reden lassen.

Die Aufgabe der Wissenschaft ist es, die Gesetze für eine Verbesserung der
deutschen Rechtschreibung festzustellen. Die historische Begründung einer solchen
mißlang, weil das Leben der Sprache ein unaufhörliches Anderssein ist und
der Schluß von dem „So war es" auf ein „So soll es auch jetzt sein", un¬
natürlich und unlogisch war. Wir sind dadurch, daß es ein mittelhochdeutsches
Wort „würken" gab, nicht gezwungen, erwürken zu schreiben; denn wir sprechen
erwirken. Die historische Sprachforschung selbst hat dargethan, daß die Deut¬
schen zu allen Zeiten bemüht waren, phonetisch zu schreiben, d. h. den Laut,
nicht etwa die Abstammung, durch entsprechende Zeichen darzustellen, wobei
freilich keine Provinz und kein Jahrhundert mit den andern übereinstimmte.
Der Buchstabe hat keinen andern Beruf, als den Laut zu malen, wie der Laut
den Begriff erklingen läßt, folglich richtet sich der Laut nach dem Begriffe und
der Buchstabe, soll er seinem eigensten Wesen nicht widersprechen, nach dem
Laute. Eine Rechtschreibung ist um so vollkommener, je mehr sie dieses Gesetz
verwirklicht. Aber das phonetische Prinzip stützt sich auf Etwas, das noch nicht
existirt. Jeder deutsche Stamm, ja jede Stadt spricht anders, und so müssen
wir erst die Sprechung regeln, ehe wir eine allgemein giltige natürliche
Schreibung zu erzielen im Stande sind.



*) Die Orthographie nach den im Bau der deutschen Sprache liegenden
Gesetzen in wissenschaftlicher, pädagogischer und praktischer Beziehung dargestellt von Dr.
F- W. Fr late. Bremen, Verlag von J> Kuhtmann's Buchhandlung, 1877.
Grenzboten II. 1877. so
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0285" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/137986"/>
          </div>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Line neue deutsche Kechtschreiöung.*)</head><lb/>
          <p xml:id="ID_801"> Diese Schrift führt die Sache eines im Laufe des letzten Sommers zu¬<lb/>
sammengetretenen &#x201E;Vereins zur Einführung einer einfachen deutschen Ortho¬<lb/>
graphie" mit dem Wahlspruch: Für jeden Laut ein Zeichen, und da ihr Ge¬<lb/>
genstand in der letzten Zeit viel besprochen worden ist, so geben wir einen<lb/>
ausführlichen Auszug aus den Abschnitten, die sich überhaupt zusammendrängen<lb/>
lassen. Wir bemerken aber im Voraus, daß wir eine Reform auf diesem Ge¬<lb/>
biet nicht für so dringend und nicht völlig in dem Maße für nothwendig<lb/>
halten wie der Verfasser, den wir nun reden lassen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_802"> Die Aufgabe der Wissenschaft ist es, die Gesetze für eine Verbesserung der<lb/>
deutschen Rechtschreibung festzustellen. Die historische Begründung einer solchen<lb/>
mißlang, weil das Leben der Sprache ein unaufhörliches Anderssein ist und<lb/>
der Schluß von dem &#x201E;So war es" auf ein &#x201E;So soll es auch jetzt sein", un¬<lb/>
natürlich und unlogisch war. Wir sind dadurch, daß es ein mittelhochdeutsches<lb/>
Wort &#x201E;würken" gab, nicht gezwungen, erwürken zu schreiben; denn wir sprechen<lb/>
erwirken. Die historische Sprachforschung selbst hat dargethan, daß die Deut¬<lb/>
schen zu allen Zeiten bemüht waren, phonetisch zu schreiben, d. h. den Laut,<lb/>
nicht etwa die Abstammung, durch entsprechende Zeichen darzustellen, wobei<lb/>
freilich keine Provinz und kein Jahrhundert mit den andern übereinstimmte.<lb/>
Der Buchstabe hat keinen andern Beruf, als den Laut zu malen, wie der Laut<lb/>
den Begriff erklingen läßt, folglich richtet sich der Laut nach dem Begriffe und<lb/>
der Buchstabe, soll er seinem eigensten Wesen nicht widersprechen, nach dem<lb/>
Laute. Eine Rechtschreibung ist um so vollkommener, je mehr sie dieses Gesetz<lb/>
verwirklicht. Aber das phonetische Prinzip stützt sich auf Etwas, das noch nicht<lb/>
existirt. Jeder deutsche Stamm, ja jede Stadt spricht anders, und so müssen<lb/>
wir erst die Sprechung regeln, ehe wir eine allgemein giltige natürliche<lb/>
Schreibung zu erzielen im Stande sind.</p><lb/>
          <note xml:id="FID_120" place="foot"> *) Die Orthographie nach den im Bau der deutschen Sprache liegenden<lb/>
Gesetzen in wissenschaftlicher, pädagogischer und praktischer Beziehung dargestellt von Dr.<lb/>
F- W. Fr late. Bremen, Verlag von J&gt; Kuhtmann's Buchhandlung, 1877.</note><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II. 1877. so</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0285] Line neue deutsche Kechtschreiöung.*) Diese Schrift führt die Sache eines im Laufe des letzten Sommers zu¬ sammengetretenen „Vereins zur Einführung einer einfachen deutschen Ortho¬ graphie" mit dem Wahlspruch: Für jeden Laut ein Zeichen, und da ihr Ge¬ genstand in der letzten Zeit viel besprochen worden ist, so geben wir einen ausführlichen Auszug aus den Abschnitten, die sich überhaupt zusammendrängen lassen. Wir bemerken aber im Voraus, daß wir eine Reform auf diesem Ge¬ biet nicht für so dringend und nicht völlig in dem Maße für nothwendig halten wie der Verfasser, den wir nun reden lassen. Die Aufgabe der Wissenschaft ist es, die Gesetze für eine Verbesserung der deutschen Rechtschreibung festzustellen. Die historische Begründung einer solchen mißlang, weil das Leben der Sprache ein unaufhörliches Anderssein ist und der Schluß von dem „So war es" auf ein „So soll es auch jetzt sein", un¬ natürlich und unlogisch war. Wir sind dadurch, daß es ein mittelhochdeutsches Wort „würken" gab, nicht gezwungen, erwürken zu schreiben; denn wir sprechen erwirken. Die historische Sprachforschung selbst hat dargethan, daß die Deut¬ schen zu allen Zeiten bemüht waren, phonetisch zu schreiben, d. h. den Laut, nicht etwa die Abstammung, durch entsprechende Zeichen darzustellen, wobei freilich keine Provinz und kein Jahrhundert mit den andern übereinstimmte. Der Buchstabe hat keinen andern Beruf, als den Laut zu malen, wie der Laut den Begriff erklingen läßt, folglich richtet sich der Laut nach dem Begriffe und der Buchstabe, soll er seinem eigensten Wesen nicht widersprechen, nach dem Laute. Eine Rechtschreibung ist um so vollkommener, je mehr sie dieses Gesetz verwirklicht. Aber das phonetische Prinzip stützt sich auf Etwas, das noch nicht existirt. Jeder deutsche Stamm, ja jede Stadt spricht anders, und so müssen wir erst die Sprechung regeln, ehe wir eine allgemein giltige natürliche Schreibung zu erzielen im Stande sind. *) Die Orthographie nach den im Bau der deutschen Sprache liegenden Gesetzen in wissenschaftlicher, pädagogischer und praktischer Beziehung dargestellt von Dr. F- W. Fr late. Bremen, Verlag von J> Kuhtmann's Buchhandlung, 1877. Grenzboten II. 1877. so

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/285
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/285>, abgerufen am 26.05.2024.