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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

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Seemann's Kunstljistorische Mlderöogen.

Die Klage, daß das deutsche Volk in Sachen des Geschmacks nicht auf
der Stufe stehe, die seiner politischen und seiner wissenschaftlichen Stellung
entsprechen würde, ist in den letzten Jahren oft genug laut geworden. Gleich
nach dem Kriege von 70 und 71 erhoben sich einsichtige Stimmen, die uns
vor Ueberhebung warnten und unseren vom Siegesglanze geblendeten Augen
die dunkeln Stellen vorhielten, wo wir von uusern Nachbarn zu lernen hätten.
Bald darauf wiederholte die Wiener Weltausstellung diese Lehre, und um so
empfindlicher, da es die eben erst von uns politisch gedemüthigte Nation war,
die uus nun ihrerseits auf künstlerischem und kunstgewerblichen Gebiete eine
Demüthigung bereitete. Man hätte an das Horazische (Zraeeig, cnM eorum
viewrein eeM denken mögen. Dann kam die Weltausstellung in Philadelphia,
und sie fand uns im Großen und Ganzen noch fast auf derselben Stelle, auf
der wir drei Jahre früher gestanden hatten. Allen klingt noch die bittere
Kritik in den Ohren, die Reuleaux von dem deutschen Kunstgewerbe auf jener
Ausstellung gegeben. Die "nationale" Presse hat sich zwar bemüht, unser
Volk über diese Niederlage hinwegzutäuschen, sie hat den unbequemen Richter
als incompetent, sein Urtheil als einseitig und gehässig, die Theilnahme an
der Ausstellung von Seiten des deutschen Gewerbes als unzulänglich zur
Bildung eines Urtheils hinzustellen gesucht, -- vergebens! Wir brauchen nicht
nach Philadelphia zu gehen, um die Berechtigung des Reuleaux'schen Urtheils
zu kontroliren; auf einem einzigen Gange durch die Hauptstraßen einer unserer
großen Städte, hinter den Spiegelscheiben unserer prunkenden Schaufenster
können wir in wenigen Stunden einen Berg von Stillosigkeiten und Gejchmacks-
widrigkeiten aller Art zusammenbringen. Wer uns bereden will, die Augen
hiergegen zu verschließen, der begeht eine Sünde an unserm Volke.

Gewiß sind in den letzten Jahren auch Anfänge zum Bessern gemacht
worden, mancherlei und vielversprechende Anfänge. Man hat kunstgewerbliche
Ausstellungen veranstaltet, in denen eine Fülle mustergiltiger Arbeiten aus


Grenzboten II. 1377. 41
Seemann's Kunstljistorische Mlderöogen.

Die Klage, daß das deutsche Volk in Sachen des Geschmacks nicht auf
der Stufe stehe, die seiner politischen und seiner wissenschaftlichen Stellung
entsprechen würde, ist in den letzten Jahren oft genug laut geworden. Gleich
nach dem Kriege von 70 und 71 erhoben sich einsichtige Stimmen, die uns
vor Ueberhebung warnten und unseren vom Siegesglanze geblendeten Augen
die dunkeln Stellen vorhielten, wo wir von uusern Nachbarn zu lernen hätten.
Bald darauf wiederholte die Wiener Weltausstellung diese Lehre, und um so
empfindlicher, da es die eben erst von uns politisch gedemüthigte Nation war,
die uus nun ihrerseits auf künstlerischem und kunstgewerblichen Gebiete eine
Demüthigung bereitete. Man hätte an das Horazische (Zraeeig, cnM eorum
viewrein eeM denken mögen. Dann kam die Weltausstellung in Philadelphia,
und sie fand uns im Großen und Ganzen noch fast auf derselben Stelle, auf
der wir drei Jahre früher gestanden hatten. Allen klingt noch die bittere
Kritik in den Ohren, die Reuleaux von dem deutschen Kunstgewerbe auf jener
Ausstellung gegeben. Die „nationale" Presse hat sich zwar bemüht, unser
Volk über diese Niederlage hinwegzutäuschen, sie hat den unbequemen Richter
als incompetent, sein Urtheil als einseitig und gehässig, die Theilnahme an
der Ausstellung von Seiten des deutschen Gewerbes als unzulänglich zur
Bildung eines Urtheils hinzustellen gesucht, — vergebens! Wir brauchen nicht
nach Philadelphia zu gehen, um die Berechtigung des Reuleaux'schen Urtheils
zu kontroliren; auf einem einzigen Gange durch die Hauptstraßen einer unserer
großen Städte, hinter den Spiegelscheiben unserer prunkenden Schaufenster
können wir in wenigen Stunden einen Berg von Stillosigkeiten und Gejchmacks-
widrigkeiten aller Art zusammenbringen. Wer uns bereden will, die Augen
hiergegen zu verschließen, der begeht eine Sünde an unserm Volke.

Gewiß sind in den letzten Jahren auch Anfänge zum Bessern gemacht
worden, mancherlei und vielversprechende Anfänge. Man hat kunstgewerbliche
Ausstellungen veranstaltet, in denen eine Fülle mustergiltiger Arbeiten aus


Grenzboten II. 1377. 41
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[0325] Seemann's Kunstljistorische Mlderöogen. Die Klage, daß das deutsche Volk in Sachen des Geschmacks nicht auf der Stufe stehe, die seiner politischen und seiner wissenschaftlichen Stellung entsprechen würde, ist in den letzten Jahren oft genug laut geworden. Gleich nach dem Kriege von 70 und 71 erhoben sich einsichtige Stimmen, die uns vor Ueberhebung warnten und unseren vom Siegesglanze geblendeten Augen die dunkeln Stellen vorhielten, wo wir von uusern Nachbarn zu lernen hätten. Bald darauf wiederholte die Wiener Weltausstellung diese Lehre, und um so empfindlicher, da es die eben erst von uns politisch gedemüthigte Nation war, die uus nun ihrerseits auf künstlerischem und kunstgewerblichen Gebiete eine Demüthigung bereitete. Man hätte an das Horazische (Zraeeig, cnM eorum viewrein eeM denken mögen. Dann kam die Weltausstellung in Philadelphia, und sie fand uns im Großen und Ganzen noch fast auf derselben Stelle, auf der wir drei Jahre früher gestanden hatten. Allen klingt noch die bittere Kritik in den Ohren, die Reuleaux von dem deutschen Kunstgewerbe auf jener Ausstellung gegeben. Die „nationale" Presse hat sich zwar bemüht, unser Volk über diese Niederlage hinwegzutäuschen, sie hat den unbequemen Richter als incompetent, sein Urtheil als einseitig und gehässig, die Theilnahme an der Ausstellung von Seiten des deutschen Gewerbes als unzulänglich zur Bildung eines Urtheils hinzustellen gesucht, — vergebens! Wir brauchen nicht nach Philadelphia zu gehen, um die Berechtigung des Reuleaux'schen Urtheils zu kontroliren; auf einem einzigen Gange durch die Hauptstraßen einer unserer großen Städte, hinter den Spiegelscheiben unserer prunkenden Schaufenster können wir in wenigen Stunden einen Berg von Stillosigkeiten und Gejchmacks- widrigkeiten aller Art zusammenbringen. Wer uns bereden will, die Augen hiergegen zu verschließen, der begeht eine Sünde an unserm Volke. Gewiß sind in den letzten Jahren auch Anfänge zum Bessern gemacht worden, mancherlei und vielversprechende Anfänge. Man hat kunstgewerbliche Ausstellungen veranstaltet, in denen eine Fülle mustergiltiger Arbeiten aus Grenzboten II. 1377. 41

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/325>, abgerufen am 18.05.2024.